1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Aber die Freymans wollten nicht allzu spät aufstehen. Es war eine längere Hochzeitsreise quer durch Europa geplant. Für einen der beiden, für John Freyman, war die geplante Reise schon beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Er hatte bereits seine allerletzte Reise angetreten, ohne Begleitung. Für die andere, für Sandra Freyman, stand das Ende der Reise noch nicht unumstößlich fest.
Noch war das Schicksal dabei, den Fahrplan auszuarbeiten.
„Paco, subito, mach ganz schnell, sag deiner Frau, sie soll rasch einen der Pickups direkt vor die Tür fahren; nein, nicht irgendeinen, sie soll den Chevy nehmen, der hat die größte Ladefläche von allen; und du kommst dann sofort zurück, um mir hier zu helfen. Wir müssen die Lady so schnell wie nur irgend möglich in die Stadt bringen.“
„Sí, Señor Sheriff, ya voy“, murmelte Paco eilfertig, drehte sich auf dem Absatz herum und hastete in einem Tempo die Treppe hinunter, dass seine Sporen nur so schepperten.
Paco trug die versilberten Messingsterne selbstverständlich nur aus Tradition - als Schmuck. John Freyman hätte niemals geduldet, dass er mit diesen stacheligen Dingern eines der Pferde auch nur berührte.
Bald hörte man Paco, wie er die Anweisung des Sheriffs wortreich an seine Frau Carmen weitergab; in seinem schnell und nuschlig herausgequirlten Kastilisch, bei dem nur seine Ehefrau auf Anhieb jedes Wort verstand, weil sie es von ihm seit jeher nicht anders gewöhnt war.
„Pero rápido! Y no lo olvidas: el Chevy!“, rief er ihr noch nach, ehe er selber wieder die breite geschwungene Treppe hochrannte. Wieder erklang der klirrende Wirbel seiner Sporen. An ihrem stakkatoartigen Rhythmus konnte man erkennen, dass auch er es drängend eilig hatte.
Ihm lag sehr am Leben Sandra Freymans. Das Überleben seiner Herrin konnte ihm seinen Job sichern, ihr Ableben aber vielleicht dessen Verlust bescheren.
Neben diesen existenziellen Angelegenheiten bekümmerte den Angestellten zusätzlich eine Frage, und zwar bezüglich einer Beobachtung am Abend zuvor. In Zusammenhang mit dem jetzigen Zustand seiner Arbeitgeber erachtete er sie selber alles in allem für möglicherweise sehr wichtig.
Aber er war sich wiederum nicht sicher, ob er seine Wahrnehmung vom Abend zuvor dem Sheriff anvertrauen, oder sie lieber für sich behalten solle.
Gregory Delano hatte inzwischen Sandra Freyman, die gestern noch Sandra Brown hieß, vom Fuß des Bettes losgebunden. Er fasste sie an den Schultern vorsichtig unter die Arme, während er Paco mit einer Kopfbewegung bedeutete, sie an den Füßen hoch zu nehmen.
Dann trugen die zwei Männer, so vorsichtig wie möglich, den Körper der bewusstlosen Frau Stufe für Stufe die Treppe hinunter; hinüber zur offen stehenden Eingangstür bis hin an den bereitstehenden Lieferwagen.
Begierig atmete der Sheriff die frische Luft des jungen Morgens in seine Lungen. Nach dem Aufenthalt im Zimmer mit John Freymans Leichnam wirkte der Sauerstoff auf ihn wie ein belebendes Elixier.
Der Motor des Chevrolets tuckerte bereits brummelnd im Leerlauf und Pacos Frau wartete breitbeinig auf der Ladefläche stehend, um den zwei Männern beim Hochhieven ihrer Herrin zu helfen.
Bevor sie den Wagen dicht vor die Türe rangiert hatte, musste sie noch schnell mehrere Arme voll Heu auf die hölzerne Pritsche geworfen haben, damit man die Verletzte für den Transport so schonend wie möglich betten konnte.
Gregory Delano nickte ihr anerkennend zu, als er es bemerkte. Carmen errötete vor Stolz.
Nachdem der Oberkörper von Sandra Freyman auf den Wagen gebettet war, schwang sich auch der Sheriff hinauf. Mit größter Vorsicht zog er, zusammen mit Carmen, die Bewusstlose so tief auf die Ladefläche hinein, dass Paco die hintere Bordwand schließen konnte.
Der schwarzgraue Dienstwagen des Sheriffs und die alte viertürige Ford Limousine, mit der Paco in die Stadt gefahren war, um Delano zu benachrichtigen, standen immer noch mitten auf dem Weg. Hastig und achtlos hatte man sie stehengelassen, zwischen dem Haupthaus, den Pferdeställen und dem weit offen stehenden Haupttor.
Ohne dass man ihn dazu auffordern musste, sprang Paco nach vorne, riss die Tür des Pickup auf und schwang sich auf den Fahrersitz. Noch bevor er das Kupplungspedal ganz durchgetreten hatte, stieß er den Ganghebel nach vorne. Krachend schoben sich die Zahnräder ins Getriebe.
Der Motor heulte auf, als Paco Mendez das Gaspedal bis zum Anschlag durchdrückte und auf das große, offen stehende Portal zusteuerte.
Im scharfen Slalom, nur knapp zwischen den beiden anderen Wagen hindurch. Vorbei an den alten Eichenbäumen auf den schmalen, ungeteerten Weg hinaus, der entlang des Flusses zur Stadt führte.
Maria Vargas, die chilenische Köchin, saß - schon seit sie die niederschmetternde Nachricht vom Tod ihres Lieblings bekommen hatte - tief gebeugt neben dem Tor auf dem Brunnenrand und lamentierte unablässig vor sich hin.
Die zwei polnischen Stallknechte standen belämmert in ihrer Nähe herum und konnten kaum fassen, was sie ihnen gerade vorher erzählt hatte. Dem Hausmädchen hatte man bisher noch nichts gesagt.
„Yah, vamos, yah, ho, ho, ho…” Paco gebärdete sich, als säße er auf einem Kutschbock und müsse die vorgespannten Pferde zu höherem Tempo anfeuern. Als ginge es nicht um die schwer verletzte Frau hinten auf dem Wagen, sondern um sein eigenes Leben.
Gregory Delano hatte inzwischen Mrs. Freyman schützend in seinen rechten Arm genommen, um sie notdürftig festzuhalten; mit dem anderen klammerte er sich selber an der Seitenwand fest. Durch Pacos rasante Fahrt und das damit einhergehende heftige Schaukeln des Wagens rutschten die Beine der drei Mitfahrer auf der Ladefläche immer wieder von einer Seite zur anderen. Carmen hielt sich mit einer Hand an der Bordwand hinter der Fahrerkabine fest, während sie mit der anderen versuchte, wegdriftende Heubüschel wieder unter die Verletzte zu stopfen.
„Adónde vamos?“, schrie Paco mit einem schnellen Blick durch das Rückfenster, als sie in die Nähe der Abzweigung an der Brücke kamen, über die man von Hendersonville nach Charleston gelangte, der Hauptstadt des Staates West Virginia. Nur, um sich zu vergewissern - oder auch nur, um etwas gesagt zu haben.
„Zu Doktor Smirnow, in die Stadt - vor der Poststation!“, rief Gregory Delano kopfschüttelnd nach vorne ins Fahrerhaus hinein, „wohin denn sonst?“
„Bueno, esta claro“, erwiderte Paco, ohne nochmals den Kopf nach hinten zu wenden.
Er ärgerte sich, überhaupt gefragt zu haben. Aber es hätte ja auch sein können, dass der Sheriff mit der verletzten Frau in das weiter entfernte Bluefield wollte, wo es mehr als einen Arzt gab und sogar ein richtiges Krankenhaus.
Oder gleich weiter in die Hauptstadt des Countys, nach Charleston. Dort wäre die Versorgung seiner Herrin sicher die allerbeste gewesen. In diesem Fall hätte er dann an der alten Holzbrücke erst einmal nach links, Richtung Princeton, abbiegen müssen, statt nach rechts, wo die Straße nach Hendersonville hinein führte.
Und dann hätte er einmal auf dem neuen State Highway mal den Wagen so richtig laufen lassen können. Was schon immer sein Wunsch gewesen war, der sich auch heute nicht erfüllen sollte.
Na gut, in diesen anderen Fällen wäre der Weg schon erheblich weiter gewesen, vor allem nach Charleston. Der Sheriff wusste sicher genau, was das Beste für seine schwer verletzte Arbeitgeberin war.
Und wenn er die heftige Rumpelei auf seinem weich gepolsterten Sitz in Betracht zog, dann konnte er sich umso besser vorstellen, wie übel es hinten auf der harten Ladefläche für seine Mitfahrer zugehen mochte. Das war kaum zumutbar für eine längere Fahrt.
Ja, nach Hendersonville, zu dem russischen Arzt, das war wohl wirklich die vielversprechendste Adresse für das Überleben seiner Herrin. Der Sheriff hatte wohl Recht.
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