Sie war so sehr in ihrer Angst gefangen, dass Richard am nächsten Pannenstreifen halt machen musste.
Sie sah nichts mehr, nur mehr einen Abhang, der sich vor ihr auftat und fast körperlich spürte sie wieder die Gewalt der Aufschläge, die das Auto beim Sturz gemacht hatte.
Richard war entsetzt. Sie wurde zunehmend hysterischer. Langsam öffnete er die Wagentür und trug sie einige Meter vom Auto weg. Sie erbrach sich. Ruth war jetzt vierzehn Jahre alt und hatte nichts, wirklich gar nichts verarbeitet. Eine irre Wut auf den Psychologen befiel ihn, den man ihnen empfohlen hatte. Wie wenig diese Leute von ihrem Handwerk verstanden! Er war immer für einen Psychiater gewesen, doch weil dieser Psychologe angeblich bei Kindern große Erfolge aufzuweisen hatte, stimmten die Nelligans zu.
Großmutter Elisa war in der Kirche sehr engagiert. Jeden Donnerstag am Abend versammelte sich in ihrem Haus eine Bibelrunde, geleitet von Pater Andreas. Da die Nelligans reich waren, traten Wohlfahrtsorganisationen und andere Vereine an sie heran. Elisa war durch ihre religiöse Erziehung sehr hilfsbereit und zögerte nicht, als ihr Pfarrer den Wunsch äußerte, in ihrem Haus die Bibelstunden des Vereins „Jesus führt uns“ abzuhalten. Richard sah es nicht gerne, wenn Ruth daran teilnahm. Der alte Mann war ihm suspekt. Er fand, für ein Kind wäre das nicht die richtige Umgebung. Sie soll sich doch mit Gleichaltrigen abgeben und nicht mit alten Menschen um einen runden Tisch sitzen und Gebete murmeln.
„Aber sieh doch wie gut es ihr dabei geht! Sie findet inneren Frieden darin.“, meinte Elisa, doch Richard lief gereizt um den Tisch herum und fuchtelte mit den Armen „Innerer Frieden! Sie soll leben, nicht wie eine Scheintote dahin vegetieren. Ich will, dass sie sich amüsiert.“
„Vielleicht sollte Ruth selbst wissen, was sie tun will. Gerade du, der du so tolerant bist, solltest nicht versuchen, den Willen anderer zu brechen. Deine Sorge mag berechtigt sein oder nicht, es hat eben den Anschein, dass sie gerne mit dem Herrn spricht.“
Er raufte sich seine steifen, braunen Locken
„Mit dem Herrn kann sie sprechen, wenn sie tot ist! Hör zu, Ma, sie ist ein Teenager! Wenn das so weiter geht, wird sie ein Sonderling werden. Willst du das?“ Elisa tätschelte ihrem Sohn die Wange „Lieber Richard, du wirst die Wege des Herrn auch noch begreifen lernen.“ Aufgebracht erwiderte er „Ach, komm mir nicht damit, Ma! Ruth ist seelisch krank und das weißt du. Ihr kann nur ein guter Psychiater helfen.“
Die Gesichtszüge der alten Frau verhärteten sich zu einer in Stein gehauene Heiligenstatue. Er merkte, dass jedes Wort vergeblich war und verließ den Raum.
Gegen religiösen Fanatismus hatte er kein Heilmittel parat und er fürchtete sich davor, dass dieser geistige Virus auf seine Nichte bereits übergegangen war.
Philadelphia, Sommer 1975
In den vergangenen Jahren war Richard ständig in Europa gewesen und hatte seine Nichte kaum gesehen. Seit einer Woche war er wieder zurück und bemerkte mit Sorge, wie sie sich entwickelt hatte.
Er sah, wie seine nunmehr achtzehnjährige Nichte, hastig die Treppen herunter eilte. Sie hatte schwarzes, schulterlanges Haar, blaue Augen, volle Lippen und eine tolle Figur, denn sie hatte die langen Beine ihrer Mutter geerbt. Ihre Kleidung ließ zu wünschen übrig, aber für den Anlass - die Bibelrunde - war es eigentlich egal. Richard merkte, dass sie sich überhaupt nicht um ihr Äußeres kümmerte und machte den zaghaften Versuch, dies zu ändern.
„Begleitest du mich morgen in die Stadt?“
„Wozu?“, antwortete sie gehetzt, als sie an ihm vorüber lief.
„Ach, ich habe einfach Lust auszugehen.“
„Gut, wenn du willst, aber jetzt entschuldige mich. Sie warten schon.“ und schon war sie Richtung Kaminzimmer geeilt, wo sich die illustre Gesellschaft schon versammelte.
Er stellte sich vor, wie er ihr eine neue Frisur verpasste, sie schick einkleidete und danach wollte er mit ihr zu einer Freundin gehen, die ihr einige Tipps beim Schminken geben sollte.
Am nächsten Vormittag ließ sie sich, folgsam wie ein scheues Reh, zum Friseur bringen.
„Finden Sie nicht, dass ihr ein Kurzhaarschnitt besser passen würde? Ich meine etwas Flottes?“, wandte sich Richard hilfesuchend an die Friseuse. Sie nickte und man begann ihr halblanges, wirres Haar abzuschneiden. Das Ergebnis sah wirklich toll aus. Hinten kurz und vorne längere Stirnfransen. Hinzu kam eine leichte Kastanientönung, die ihre blauen Augen besser zur Geltung brachten. Anschließend kleidete er sie neu ein. Zwei kurze schwarze Röcke, drei Jeans, in blau, schwarz und silbergrau und dazu passende Oberteile. Er bestand darauf, dass sie ihre alten Kleider auszog und die neuen gleich anprobierte. Sie verließ das Geschäft in einer schwarzen engen Jean und einer silbergrauen, glänzenden Seidenbluse. Etwas erschöpft sagte er „So, und jetzt dein Gesicht.“ Sie sah ihn misstrauisch an „Onkel Richard, sag, was hast du eigentlich mit mir vor? Willst du mich an den Mann bringen?“
„Warum nicht? Ach was, schau nicht so! Ich will dich nur einmal in schicken Sachen sehen. Den Anblick gönnst du mir doch, oder?“
Er hoffte in ihr einen Hauch Lebensfreude zu wecken. Er gab nicht auf. Seine italienische Freundin hatte ihr Kosmetikstudio nicht weit vom Einkaufszentrum entfernt.
Eine dunkelhäutige Schönheit mit einer schwarzen Lockenmähne kam strahlend auf die beiden zu. “Ricardo, come sta?“ „Bene, grazie, e tu?“, antwortete er charmant. Nach einer überschwänglichen Begrüßung, die kein Ende zu nehmen schien, landete Ruth auf einem Hocker vor einem großen Spiegel. Ihr Gesicht bekam ein Peeling. Es wurde eingecremt, betupft und dann wurde das Make-up aufgetragen. Richard wunderte sich, was man aus einem Gesicht alles machen konnte.
Als Ruth sich nach der Prozedur im Spiegel betrachtete, musste auch sie staunen. Objektiv betrachtete sie sich. Manuela hatte ihre dichten Augenbrauen zu einem schönen Schwung gezupft und sie betont, indem sie diese schwarz färbte. Ihre Wimpern wurden getuscht. Ihr Gesicht hatte durch das Make-up einen makellosen, frischen, leicht rosigen Teint erhalten. Am markantesten aber war ihr Mund. Mit dem Lippenliner hatte sie dem Mund einen interessanten Zug verliehen, indem sie die Oberlippe ein wenig höher zog, dadurch schienen beide Lippen eine Einheit zu bilden und diese mit einem Lippenstift in dunkelroter Farbe bemalt. Alles passte zusammen. Mit ihren langen Beinen, dem knabenhaften Oberkörper und dem Kurzhaarschnitt hatte sie sich in ein Pariser Fotomodel verwandelt. Ruth kannte sich selbst nicht wieder. Mit dem Ergebnis zufrieden, klatschte Richard in die Hände. „Jetzt gehen wir essen! Auf was hast du Appetit? Chinesisch, russisch, italienisch oder vielleicht französisch?“ „Was du willst, Onkel Richard.“, kam ihre müde Antwort, verwirrt über die Veränderung, die man an ihr vorgenommen hatte. „Gut, dann gehen wir französisch essen. Gleich hier nebenan. Hast du was dagegen, wenn Manuela mitkommt?“
„Aber nein, während du auf sie wartest, besuche ich noch die Bücherei. In einer halben Stunde treffen wir uns dann vor dem Lokal.“, und schon huschte sie davon. „Sie ist hübsch deine Nichte. Und sie scheint ein Problem zu haben!“
„Du hast es erfasst, meine Liebe, aber das erkläre ich dir ein anderes Mal.“
Im Bücherladen durchstöberte Ruth die Regale nach dem Philosophen Spinoza durch. Sie fand ihn nicht. Der junge Verkäufer fragte, ob er ihr behilflich sein könnte, doch Ruth winkte ärgerlich ab. Sie wollte ihre Ruhe haben, war total erschöpft von Richards Ansprüchen, die er an sie stellte.
Heute hatte sie etwas anderes vorgehabt, aber morgen wird sie auch noch Zeit finden, sich mit Pater Thomas zu treffen. In der Auslage erhaschte sie einen Blick auf ihr Spiegelbild und dachte: aber sicher nicht in diesem Aufzug. Sie kam sich undankbar vor.
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