Marc Lindner
Flucht aus dem Morgengrauen
Roman
© Marc Lindner, 2017
Cover: Marc Lindner
Lektorat: Mandy Hemmen
Inhaltsverzeichnis
– 1 – Das letzte Rennen
– 2 – Nacht des Abschieds
– 3 – Arztbesuch
– 4 – Der Start
– 5 – Der Inder
– 6 – In Kairo
– 7 – Der schlafende Händler
– 8 – Die Wirtin
– 9 – Sabrinas Vorstellungen
–10 – Der Nachtausflug
– 11 – Die Karawane
– 12 – Der Aufstieg
– 13 – Die Flucht
– 14 – Die ersten Schritte
– 15 – Der Spaziergang
– 16 – Harshads Gewissen
– 17 – Richtung Westen
– 18 – Ruhelose Rast
– 19 – Hin und her
– 20 – Abreise
– 21 – Die Findung
– 22 – Konrads Theater
– 23 – Ausverkauf
– 24 – Abenddämmerung
– 25 – Lagerfeuer
In mir herrschte Chaos. Obwohl. Eigentlich nicht, ich war völlig ruhig. Nur in meinem Kopf, da spukte es. Unzählige Formeln geisterten dort umher und rankten sich um meine Aufmerksamkeit. Sie schwebten so leicht, so elegant und makellos um meinen Verstand. Zogen immer enger ihre Kreise. Sie waren mir eine Last und dennoch fürchtete ich mich davor, nachher ohne sie zu sein. Eine länger als die andere, drangen sie auf mich ein. Anmaßend waren sie. Gaben vor alles zu erklären und alles zu regeln. Das störte mich, denn diese Gedanken hinderten mich am Vorankommen. Nicht hier auf der Straße, meine Füße ließen sich nicht beirren. Aber die Reise mit den Formeln war beschwerlich. Es schmeckte wie brackiges Wasser, doch ich musste es trinken, ich wollte es. Ich wollte den Grund sehen, doch der See war groß. Und lauwarm, einlullend, einschläfernd. Gemütlich, ja, aber einnehmend, mein Körper wurde gar taub, ließ sich treiben, willenlos, ich tauchte ab, sah die Stadt um mich nicht mehr, sie verschwamm. Trübes Licht. Mehr drang nicht durch den Umhang aus Formeln. Sie sollten die Welt erklären, doch ich sah diese nicht mehr.
Es war warm und die Luftfeuchtigkeit stieg unaufhörlich. Ein schwacher Wind lebte auf‚ das bedeutete Regen, sagten mir meine Formeln, auch die schweren Wolken am sich verfinsternden Himmel. Als wollten sie mich bis zum Ende begleiten. Nein, das war es nicht, heute war erst der Anfang. Ich hatte Schlussexamen, dann erst ging es los. Meine Füße beschleunigten, doch ich bremste sie gleich wieder. Sie nahmen sich zu viel Freiheit, den Weg konnten sie ruhig wählen, aber das Tempo bestimmte ich. Um zehn Uhr sollte ich da sein. Es war jetzt kurz nach neun, also noch reichlich Zeit. Und ich wollte noch entspannen, frische Luft tanken. Von der Stadt bekam ich nicht viel mit. Wie eine Leinwand hob sie sich vor mir hoch doch mein Blick blieb nicht hängen. Meine Augen bekamen nicht viel zu greifen, sie waren müde, es war eine lange Nacht gewesen. Eine Sommernacht, eine von diesen schwülen, in denen man nicht einzuschlafen vermochte. Und dann noch diese Unruhe, nicht körperlich, tiefer, viel tiefer. Eine, die man nicht abschalten, nicht einmal erklären konnte. Eigentlich war ich gut vorbereitet, die Formeln waren ja da. Und verfolgten mich. Ich lachte. Sollten sie nur tun, was sie wollten, bald waren sie Geschichte. Eine von diesen trockenen, eine die man schnell vergisst. Ich wollte mich auch nicht an sie erinnern, zu anmaßend waren sie, einengend. Freiheit. Sie lag in den Wolken über mir, wild und ungeordnet. Fast wie meine Gedanken, stellte ich fest. Doch ich griff nicht danach, nur die Prüfung wollte ich hinter mich bringen. Was danach kam, brauchte mich nicht zu interessieren. Irgendetwas würde sich finden. Ich war keiner der gerne suchte, ich fand lieber. Dann war die Überraschung größer. Und vor allem gab es keine Enttäuschung. Aber jetzt fand ich nichts. Ich sah nichts, wollte nichts sehen. Nur den Weg, und den wählten meine Füße. Mein Kopf war beschäftigt. Überfüllt, wie eine große Deponie. Anmaßende Formeln, die mir ihre Hilfe anboten, und ich konnte sie nicht mehr sehen. Immer dieses Rechnen, und dabei kannte der Professor jedes Resultat. Das machte keinen Sinn, nur Beschäftigung. Und ich langweilte mich, wollte mehr, wollte etwas Neues, doch das gab es nicht. Ich sollte einfach mit dem Strom schwimmen, und ich merkte, wie ich allmählich ertrank. Die anderen überholten mich.
Ich konnte nicht so schnell, wollte es nicht. Einfach stehen bleiben und Luft holen. Freiheit. Doch dafür war keine Zeit. Ich musste weiter schwimmen, die Anderen taten es schließlich auch. Und ich wurde mit Denen gemessen. Wie ein Fisch auf dem Wochenmarkt. Gewogen und für zu leicht empfunden. Meine Gedanken waren es auch, deshalb entglitten sie mir immer wieder. Ich konnte sie nicht halten, zumal wenn ich lernte. An sich tat ich es gerne, fand es faszinierend, deshalb hatte ich studiert. Idealismus war es gewesen. Und die Spannung war immer noch da. Bis ich das Gelehrte verstand, dann war die Faszination weg und es langweilte mich. Ich wollte mehr, wollte die Welt sehen, sie verstehen. Mehr als das, was mir diese Formeln weismachen konnten. Ich glaubte es nicht, da gab es mehr und ich sehnte mich danach. Ich schwamm zu schnell, konnte nicht einmal mit mir selbst mithalten. Doch das wollte ich nicht mehr. Es musste sich etwas ändern, und das würde auch passieren. Noch dieses Examen, dann konnte es losgehen. Das hatte ich mir vorgenommen. Abenteuer, mehr als nur in Gedanken. Diese reisten schon, und ich bald hinterher. Immer weiter, ohne den richtenden Strom der Menschen. Gegen ihn musste nicht sein, es war so schon schwer genug. Doch noch ließ ich mich treiben, und ertrank, in meinen Formeln. Sie waren überall. Meine Füße zogen mich durch die Straßen. Die Gebäude flankierten mich, damit ich nicht ausbrach. Ich erkannte sie nicht, sie blieben stehen, wie Zuschauer bei einem Straßenrennen, und ich der Läufer. Endspurt, die Menge jubelte, doch ich konnte sie nicht hören. Nur aus der Ferne, wie ein auflebender Wind. Tausend Stimmen, und noch mehr Gefühle. Und alle drangen sie auf mich ein. Ich konnte die Zielgerade sehen. Und dann wurde ich auch noch eingeholt.
Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und passte seinen Schritt dem meinem an.
«Wusste doch, dass ich dich heute sehen würde», grüßte mich Sebastian. Er war in meiner Vertiefungsrichtung. Wirklich gut kannten wir uns nicht. Während den Semestern sahen wir uns nur zufällig. Das heute war nur auf den ersten Blick Zufall, denn wir hatten Matrikelnummern, die nicht weit auseinanderlagen, sodass wir bei fast allen Klausuren nebeneinander gesessen hatten. Und so hatten wir uns kennengelernt. Natürlich reichte das nicht aus, um sich richtig anzufreunden. Wir waren beide etwas nervös und versuchten dies mit belanglosem Reden zu vertreiben. Aufgrund der vorherrschenden Atmosphäre bekam der jeweils andere nicht viel mit, oder vergaß es rasch. Doch wir waren uns sympathisch und so hatten wir oft den Schlussspurt gemeinsam in Angriff genommen. Nach den Examen trennten sich unsere Wege. Unsere Zusammenkunft hatte immer einen unangenehmen Beigeschmack, vielleicht war das der Grund, warum nie mehr aus dieser Freundschaft geworden war.
«Immer wieder ein Vergnügen», erwiderte ich leicht ironisch.
Sebastian lachte und klopfte mir abermals auf die Schulter, um mir zu zeigen, dass er mich richtig verstanden hatte.
Über dieses Geplänkel kamen wir nie hinaus. Es war einfach die falsche Zeit, und der falsche Ort. Zu viele Gedanken beherrschten uns und wir wollten nur abschalten. Da kamen wir uns gerade recht. Uns beiden war das bewusst und so nahmen wir unser Verhalten nie als unfreundliches Distanzieren auf. Wir waren Leidensgenossen. Immer zur rechten Zeit da, wie ein Schatten, der den Klausuren anhaftete.
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