1 ...6 7 8 10 11 12 ...33 Als ich die Glocke vernahm, wusste ich, was zu tun war. Schon als ich im Jahre 1636 auf das Castle kam, wurde mir erklärt, dass sich alle bei einem Notfall in der Kapelle zu versammeln hatten. Also schickte ich sofort nach meinen Kindern Alistair, deinem Vater, und Ennis, deinem Onkel und wir eilten in die Kapelle. Dein Großvater Aidan musste sich bei seinem Vater Hamish einfinden, dem damaligen Laird von Dunnottar Castle, um ihm zu helfen, die Bedrohung oder was es auch immer war, abzuwenden. Als wir in der Kapelle ankamen, hatte sich schon der Großteil der Burgbewohner versammelt.“
„Wie alt war mein Vater damals?“
„Alistair hatte dein Alter und Ennis war acht Jahre alt, soweit ich weiß.“
„Und die anderen aus unserer Familie? Wer war noch da?“
„Dein Urgroßvater Hamish hatte schon ein stolzes Alter erreicht, ich denke, so Mitte 60. Er war noch sehr rüstig, kann ich mich erinnern. Seine Frau Ivera hingegen, die ein ähnliches Alter hatte, war sehr schwach und wurde auf einer Trage in die Kapelle gebracht. Die Brüder deines Großvaters waren etwas älter als ich, so um die 40 Jahre.“
„Wie hießen diese Brüder? Hatten sie Familie?“, wollte Sean wissen.
„Du willst es ganz genau wissen, mein Junge.“ Kendra lächelte. „Das waren Gawyn, der ältere, mit seiner Frau Cailin. Sie hatten vier Kinder. Und der zweite, Dusten mit Sinann und drei Kindern. Dein Großvater war der Jüngste“, erklärte Kendra.
„Großmutter! Ihr habt ein fabelhaftes Gedächtnis! Darf ich noch etwas fragen?“
„Ja, mein Kind.“ Und wieder zeigte sich ein Lächeln auf ihrem faltigen Gesicht.
„Wie viele Menschen versammelten sich damals in der Kapelle? Ich weiß, ich bin neugierig. Aber ich möchte mich in die Geschichte hineinversetzen können.“
Seans Großmutter überlegte: „Die genaue Zahl kann ich dir nicht sagen. Hm, wer war alles da? Also: der Pfarrer, der Bäcker, die Köchin und ihre Küchenhilfen, der Gärtner, … der Schmied, … der Stallmeister, der Hausverwalter … und natürlich mehrere Zofen und Diener. Und dazu die Familien der Bediensteten.“
Sean staunte. „Eine Menge Leute. Das war bestimmt eng in der Kapelle.“
Kendra nickte. „Ja, es entwickelte sich zu einer sehr unangenehmen Situation, besonders, weil wir nicht wussten, was passiert war.“
„Habt Ihr es bald herausgefunden?“
„Eine gewisse Zeit mussten wir schon warten, bis wir erfuhren, was der Grund für das Läuten war. Dein Großvater kam schließlich mit seinem Vater und seinen Brüdern zu uns und erzählte, dass zum Zeitpunkt des Glockenläutens eine Reitergruppe gesichtet worden war, die mit der englischen Flagge auf Dunnottar Castle zugeritten kam.“
Seans Spannung stieg. Er erinnerte sich, einmal diese Flagge in einem Buch gesehen zu haben. Sie bestand aus einem roten Kreuz auf weißem Grund.
„Aidan musste mit seinem Vater und seinen Brüdern zum Torhaus gehen, da sie sahen, dass eine kleine Abordnung Engländer bereits die Stufen emporstieg. Sie fluchten über den beschwerlichen Aufstieg und begrüßten den Burgherren barsch. Es folgte eine kurze Verhandlung, in der der Befehlshaber der Reiter die kampflose Übergabe der Burg forderte und verkündete, dass eine große Anzahl weiterer Soldaten bereits auf dem Weg war.
Als Hamish die Kapitulation verweigerte, drohte der Engländer mit der Zerstörung des Castles und der Ermordung aller Bewohner. Hamish erwiderte, dass er sich niemals ergeben würde. Daraufhin sind die Soldaten wutentbrannt abgezogen und riefen, dass es Hamish bald leidtun werde.
Nun, in der Kapelle, forderte Hamish alle Männer auf, die Burg zu verteidigen. Viele waren begeistert, endlich ihrem Groll gegen die Engländer Luft machen zu können und ihren Kampfgeist zu beweisen. Doch andere hatten noch nie gekämpft und fürchteten sich. Es half jedoch nichts, sie mussten ihr Zuhause und ihre Familien vor den Angreifern schützen. Die kampffähigen Männer hielten einen kurzen Kriegsrat in der Kapelle ab und verteilten die Aufgaben. Zuerst mussten alle Waffen und die Munition aus dem Lagerhaus geholt und auf die Verteidigungsposten verteilt werden. Außerdem war es nötig, die Kanonen im nordwestlichen und südöstlichen Teil der Burg auszurichten und zu bewaffnen. Wäre das geschafft, sollte jeder Mann auf einen Posten gehen und weitere Befehle abwarten. Ich wollte damals gut informiert sein und hatte versucht, alles genau zu verstehen.
Als Aidan sich kurz bei uns verabschiedete, sagte er mir, dass er bei den nordwestlichen Kanonen eingeteilt wäre. Ich konnte Verbitterung, Entschlossenheit und zu meinem Entsetzen auch Angst in seinem Gesicht erkennen. Das letzte verunsicherte mich noch mehr, doch ich musste Ruhe ausstrahlen, damit sich unsere Kinder und auch die anderen Burgbewohner nicht noch mehr fürchteten.
Bevor die Männer die Kapelle verließen, ordnete Hamish an, dass wir Frauen mit den Kindern und den Alten im Gotteshaus bleiben sollten, bis die Gefahr vorüber wäre. Er betonte, dass wir völlig sicher seien und bald wieder in unser Zuhause gehen könnten. Doch ich bemerkte eine leichte Unsicherheit in seiner Mimik und auch die anderen Bewohner sahen sehr besorgt aus. Wir versuchten, uns auf eine längere Zeit in diesem Raum einzustellen und die Angst, besonders um das Leben unserer Männer, zu verdrängen.“
Kendra leckte sich die Lippen und bat um ihren Becher mit Wasser. Während Sean ihr diesen vom Nachttisch reichte und schweigend beobachtete, wie seine Großmutter vorsichtig einige Schlucke trank, erinnerte er sich an die Aufzeichnungen über William Wallace und daran, dass dieser alle englischen Soldaten, die damals auf der Burg stationiert waren, lebendig in der damaligen Kapelle verbrannt hatte. Unwillkürlich entwickelte sich vor seinem geistigen Auge eine Szene, in der brennende Leiber sich schreiend gegen die verschlossene Kapellentür warfen und elendig verbrannten. Sean schüttelte diesen Gedanken ab und blickte wieder zu seiner Großmutter. Sie reichte ihm den Becher und er stellte ihn wieder ab. Leicht erfrischt und mit etwas geschmeidigeren Stimmbändern setzte die alte Dame ihre Erzählung fort.
„Diese Ungewissheit war schrecklich. Wir lauschten angestrengt, doch lange Zeit konnten wir nichts Bedrohliches wahrnehmen. Es war zu ruhig, schien mir. Die Kinder wurden quengelig und konnten nicht verstehen, warum wir nicht nach Hause gehen durften. Einige Alte dösten in den Bänken ein oder fingen ebenfalls an zu nörgeln. Deine Urgroßmutter schlief auf ihrer Trage tief und fest.
Doch dann ging es plötzlich los. Wir hörten Schüsse, Musketenschüsse, Dutzende gleichzeitig, und es war laut, trotz der dicken Mauern um uns. Die Kinder fingen an zu weinen und die größeren von ihnen hielten sich die Ohren zu. Die Alten wachten zu Tode erschrocken auf, ein paar rutschten vor Schreck von der Bank. Ich wusste nicht, von welcher Seite die Schüsse kamen. Dann trat eine kurze Pause ein und wir atmeten erleichtert auf. War der Feind schon besiegt?
Noch bevor ich diesen Gedanken zu Ende denken konnte, setzte eine neue Beschusswelle ein. Doch diesmal war es noch lauter und ich hatte das Gefühl, dass die Erde bebte. Die Angreifer hatten mit dem Kanonenbeschuss begonnen und warfen anscheinend auch Granaten. Ich hörte die Schreie unserer Männer, die sich Befehle zuriefen, und noch andere Geräusche. Die Pferde in den Ställen wieherten in Todesangst und traten gegen die Boxen. Die Mauern wurden getroffen, Steine bröckelten und fielen mit Krach zu Boden. Es war schrecklich. In der Kapelle breitete sich Panik aus und wir wollten unbedingt wissen, was da draußen vor sich ging.“
Kendra machte eine Pause und Sean stellte sich entsetzt die armen Pferde vor, die eingeschlossen in den Ställen Todesangst erlitten. Dann blickte er zu seiner Großmutter und sah ihr verkrampftes Gesicht. Das Erzählen dieses bedrückenden Ereignisses machte ihr offenbar schwer zu schaffen.
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