Sean reichte Arthur das Buch und dieser untersuchte es genau.
„Weiter hinten steht noch etwas geschrieben. Hast du das auch gelesen?“
Sean antwortete aufgebracht: „Natürlich! Aber das ist nicht so spannend. Irgendwelche Gedanken über das Leben.“
„Schade“ sagte Arthur und gab Sean das Buch zurück.
Dann schwiegen beide Jungen eine Weile betreten. Die Geschichte hatte sie vollkommen gefesselt. Viele Fragen schwebten im Raum, eine drängte sich dabei in den Vordergrund. Arthur sprach sie schließlich aus:
„Ob er den Schatz jemals geholt hat?“
„Ich weiß es nicht. Ich würde zu gerne zu dieser Insel fahren und danach suchen“, entgegnete Sean.
Arthur nickte und fragte: „Weißt du, wer das Buch geschrieben hat?“
„Keine Ahnung. Wie kommt ein handgeschriebenes Buch in die Bibliothek?“
„Hm, wie heißen denn deine Ahnen? Es muss jemand sein, der im 16. Jahrhundert gelebt hat“, entgegnete Arthur.
„Ich kenne niemanden mit diesen Initialen. Ein Rätsel, dass ich wohl nie lösen werde.“ Sean ließ enttäuscht den Kopf hängen.
„Wer weiß?“, sagte Arthur aufmunternd.
Die zwei Freunde hatten bei ihrem Ausflug in die Vergangenheit völlig die Zeit vergessen. Draußen wurde es bereits dunkel und Sean musste nach Hause. Behutsam steckte er das Buch in seine Jacke, verabschiedete sich von Arthur und seiner Familie, zog seine Wintersachen an und ritt heim zum Palais.
Beide Jungen träumten in dieser Nacht vom Seefahren und vom Schatz finden.
Vier
- 1690 -
Das neue Jahr begann genauso eisig wie das alte aufgehört hatte. Bis weit in den April hinein plagte der Winter die Bewohner der schottischen Highlands.
Sean und Arthur nutzten die Zeit im Haus, indem sie gemeinsam Bücher lasen, denn das Thema Meer und Seefahrt ließ sie nicht mehr los. Sie suchten alle Bücher aus der Bibliothek heraus, die irgendetwas damit zu tun hatten. Sean war wieder einmal fasziniert davon, welche Vielzahl an Büchern sein Vorfahre gesammelt hatte.
Beiläufig fragte er seinen Freund eines Tages: „Was ist das nun eigentlich für ein Stein an deinem Hals? Warum machst du so ein großes Geheimnis darum?“
Der glänzende, rötliche Stein war Arthur immer wieder einmal aus dem Kragen gerutscht und Sean hatte ihn dann kurzzeitig bewundern können. Wenn er ihn danach fragte, wich Arthur immer aus oder antwortete mit einer Gegenfrage, so auch jetzt: „Warum willst du das wissen?“
„Es interessiert mich eben!“, entgegnete Sean schmollend. „Bitte, Arthur! Wir wollten doch keine Geheimnisse voreinander haben.“
„Wer sagt das? Nur weil dein Leben langweilig ist, muss ich dir alles erzählen?“
Das war gemein. Arthur bemerkte zwar, dass er etwas Ungerechtes gesagt hatte, wollte aber nicht nachgeben.
„Mein Leben soll langweilig sein? Wenn du wüsstest!“, entgegnete Sean entrüstet. „Wenn du mir nichts über deinen blöden Stein sagen willst, bitte.“
Sean schaute beleidigt aus dem Fenster.
„Er ist nicht blöd!“, sagte Arthur schnippisch und machte sich abrupt daran, nach Hause zu gehen.
Sean wollte ihn daran hindern, ließ es dann jedoch resigniert bleiben und schaute seinem Freund traurig zu, wie dieser seinen Mantel anzog und zur Tür ging. Arthur hielt kurz inne, mit der Klinke in der Hand, doch dann schlüpfte er ohne einen Gruß oder Blick hinaus.
Dies war das erste Mal, dass sich Sean und Arthur richtig gestritten hatten. Stur, wie sie beide waren, herrschte die nächste Zeit Funkstille. Sean fragte sich ständig, warum Arthur so eigenartig reagiert hatte. Um nicht an Arthur denken zu müssen, las Sean weiter fleißig Bücher und flüchtete in seine Fantasiewelt.
Zu seiner großen Freude fand er Texte zur Geschichte von Dunnottar Castle. Zu gerne hätte er sie seinem Freund gezeigt oder vorgelesen, aber sein Stolz ließ nicht zu, dass er den ersten Schritt auf Arthur zuging. Also studierte Sean die Schriften allein.
Er fand heraus, dass die Burg im Jahr 1296 vom englischen König Edward I. eingenommen wurde. Ein Jahr später eroberte sie der schottische Nationalheld William Wallace zurück. Danach kam es auf der Burg immer wieder zum Herrschaftswechsel zwischen Engländern und Schotten, bis nach der Schlacht von Bannockburn im Jahr 1314 durch einen weiteren schottischen Helden - Robert the Bruce - endlich Ruhe einkehrte, da er als Robert I. schottischer König wurde.
Sean war überrascht, dass im 16. Jahrhundert die schottischen Reichsinsignien auf Dunnottar Castle aufbewahrt wurden, also das Schwert, das Zepter und die Krone des Königs. So wichtig war sein Zuhause! Außerdem konnte das Castle zwei Besuche schottischer Könige verzeichnen. 1562 hielt sich Königin Maria Stuartauf Dunnottar Castle auf und 1580 König James I.
1651 herrschte Bürgerkrieg auf den Britischen Inseln und der Feldherr des Parlamentsheeres Oliver Cromwell belagerte die Burg mit seinen Truppen. Erst nach acht Monaten konnte sie eingenommen werden. Doch die Reichsinsignien wurden zur Freude Seans gerettet, da eine mutige Pfarrersfrau sie aus der Burg geschmuggelt und unter einer nahen Kirche vergraben hatte.
Sean staunte. Wie gerne hätte er das alles Arthur erzählt. Sean vermisste ihn schmerzlich.
Plötzlich fiel ihm ein, dass die Belagerung noch nicht so lange her gewesen war, erst 39 Jahre. Aufgeregt räumte er die Bücher auf und eilte zu den Gemächern seiner Großmutter. Diese war jetzt schon seit einiger Zeit im Palais untergebracht, damit sich die Familie besser um sie kümmern konnte. Kendra hatte das stolze Alter von 71 Jahren erreicht und im letzten halben Jahr körperlich deutlich abgebaut. Seans Eltern wollten ihrem Sohn zwar verheimlichen, dass sie sich Sorgen um sie machten, aber Sean merkte es ihnen trotzdem an.
Kendras geistige Fähigkeiten hatten allerdings noch kein bisschen nachgelassen. Um seiner Großmutter Freude und Abwechslung zu bereiten, besuchte Sean sie nun häufig und sie unterhielten sich viel. Kendra erzählte ihrem Enkel Geschichten aus der Vergangenheit und andere Dinge, die sie beschäftigten und Sean ließ sie an den Dingen teilhaben, die er erlebte und vor allem las.
Sean trat näher an Kendras Bett und begrüßte sie. Die blasse alte Frau lag zusammengesunken auf ihrem Lager. Dann nahm er ihre Hand und sagte:
„Guten Tag, liebe Großmutter. Wie geht es Euch?“
„Ach, es geht, mein Junge. Schön, dass du mich besuchst.“
Sean kam direkt zur Sache. „Ich habe in einem Buch die Aufzeichnung gefunden, dass Dunnottar Castle vor 39 Jahren belagert wurde. Könnt Ihr mir etwas davon erzählen?“
Seans Augen glänzten vor Aufregung und er schaute Kendra erwartungsvoll an.
„Ja, mein Junge, ich erinnere mich, sehr lebhaft sogar. Das war eine schlimme Zeit damals, und ich denke nicht gern daran.“
„Bitte, liebe Großmutter! Ihr müsst es mir erzählen!“
Kendra schaute skeptisch. „Bist du denn schon alt genug für solche Geschichten, mein Kind?“
Sean nickte aufgeregt. „Ich bin schon elf und habe Einiges über Schlachten und Kriege gelesen. Ich fürchte mich nicht.“
Kendra lächelte. „Gut, mein Junge. Dann will ich es dir erzählen, damit die Geschichte unserer Familie nicht verloren geht.“
Die alte Frau rückte sich in ihrem Bett zurecht und schaute nachdenklich in die Ferne, wobei ihre Stirn in Falten lag.
„Es begann damit, dass Mitte November im Jahre 1651 plötzlich die Glocke der Burgkapelle läutete. Da sonst nur am Sonntag die Glocke erklang, wusste jeder, dass es sich um ein Notsignal handeln musste. In den letzten Monaten kamen immer wieder Nachrichten von Kämpfen zwischen den Engländern unter dem Parlamentarier Oliver Cromwell und den königstreuen Schotten, so dass die Bewohner der Burg bereits Vorräte an Proviant und Munition einlagerten, falls sie von der Umgebung abgeschnitten werden sollten. Die Leute auf der Burg befanden sich in Alarmbereitschaft und waren auf das Schlimmste gefasst.
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