Er lebt also.
Noch.
Einen Moment lang dachte Dani daran, dem ein Ende zu setzen. Diese verfluchte Bestie hätte bei der Entscheidung sicher nicht gezögert. Monster töteten schließlich ohne Gnade oder Moral. Sie würden nicht mal denjenigen schonen, dem sie etwas schuldig wären.
Leben und Leben lassen kennen die Typen nicht.
Sie jedoch war ein Mensch.
Und ein Mensch handelte nicht wie ein Ungeheuer.
Schuldtilgung
Jules fiel fast aus dem Bett, als er Danis Schläge gegen die Metalltür hörte. Umgehend zog er sich seinen alten grauen Bademantel über den ausgeleierten Schlafanzug und fuhr mit den Füßen in die Großvater-Pantoffeln. Einen kurzen Augenblick hielt er inne und dachte mit Schaudern daran, wie steil es mit seiner Jugend bergab ging, bis das donnernde Hämmern der Tür ihn wieder an seine Freundin erinnerte.
„Hast du den Schlüssel verloren?“, gähnte er, während er ihr öffnete und schreckte sogleich zurück.
Schweißgebadet, mit rotem Kopf und knirschenden Zähnen stand Dani vor ihm im schwachen Licht des neuen Tages und er musste keinen Abschluss in nonverbaler Kommunikation haben, um ihre Verbitterung und Erschöpfung zu verstehen. Was ihn aber noch mehr entsetzte, war die schwarze Schmiere, die ihr Gesicht und ihre Kleidung besudelte. Und das riesige Geschöpf, welches sie schulterte. Zuerst sah er nur langen Pelz, pechschwarz und zerlumpt. Schließlich eine Art Maske … ein Wolf?
„Bei allen Göttern!“, entfuhr es ihm augenblicklich und er schlug die Hände über seinem Kopf zusammen.
„Die kannst du später noch anrufen!“, keuchte Dani gereizt. „Hilf mir, den Mistkerl reinzutragen! Der ist verdammt schwer!“
Obwohl er lieber eine Erklärung von ihr gehört hätte, ging Jules schnell ihrem Wunsch nach, trat ihr zur Seite und nahm den anderen Arm des Dämons auf seine schmalen Schultern. Wieso sah der Lichtfänger eigentlich aus wie ein Mensch? Ein Mensch mit Wolfsmantel und Wolfsmaske, als wäre er unterwegs zu einer Faschingsparty! Hinter der leer erscheinenden Schädelhülle des noch immer mit Zähnen gespickten Mauls erblickte er einen schmallippigen Menschenmund. Dazu klebte dieses schwarze Zeug an ihm wie … Blut! Schwer war der außerdem wirklich! Jules schätzte das Gewicht auf gut hundert Kilo – und das bestand sicher nicht aus Körperfett.
Als beide den Wolfsmann schwer atmend durch die Tür in den Wohnbereich hievten, konnte Jules sich den Spott an der Situation irgendwie nicht verkneifen und scherzte: „Kannst du nicht wie jede andere Frau eine Katze auflesen? Oder einen kleinen Streuner? Aber nein, du schleppst um sieben Uhr in der Frühe ein hünenhaftes Monster an! Echt mal, Dani, wir sollten darüber reden …“
„Das kann warten!“, stöhnte sie genervt und steuerte das grüne Sofa an.
Jules allerdings stoppte ihr Vorhaben mit dem Argument: „Willst du etwa das gute Polster mit den Flecken versauen?“
„Fein, ist mir auch recht! Hauptsache ist ja, ich bin mit dem raus aus der Sonne!“ Und an Ort und Stelle ließ sie den Verwundeten gleich einem nassen Sack lieblos auf den ramponierten Perserteppich fallen. Weil Jules ihn nicht allein tragen konnte, musste er ebenfalls loslassen.
Nun lag ein ausgewachsener Dämon regungslos zu ihren Füßen.
„Was zur Hölle ist dort draußen passiert?“, wollte Jules laut werdend endlich wissen. „Ich dachte, du wolltest so einen umbringen! Stattdessen schleppst du den Werwolf hier an! Lebt der noch? Hast du den derart zugerichtet? Mädchen, wir sollten deine Aggressionen besprechen! Was denkst du dir eigentlich dabei? Abgesehen davon, wieso ist der ein Mensch -“
Stöhnend zog Dani mit angeekelter Miene die beschmierte Jacke aus und warf diese von sich.
„Ach, was weiß ich denn?“, maulte sie barsch und stampfte wütend auf. „Ich hab das Rudel aufgespürt, hab den Kerl gefunden, der meine Eltern gekillt hat und dafür gesorgt, dass er das Fell gegerbt bekommt! Und doch kann ich irgendwie den Typen nicht verrecken lassen!“
„Nicht -“, leuchteten Jules ihre Worte ein. „Der lebt also?!“
„Vielleicht, ein wenig.“ Sie zuckte kaltherzig die Achseln. „Schau doch selber nach, du bist hier der Arzt!“
„Doch nicht für Dämonen! Die haben möglicherweise eine ganz andere Anatomie!“
„Und ist das mein Problem oder seines?“, wurde Dani bösartig. „Ich wollte nicht, dass die Polizei ihn findet, darum hab ich ihn mitgenommen! Und ja, ein bisschen leid tat er mir auch! Ich hab ihn ans Messer geliefert und fühl mich schlecht deswegen! Dabei sollte es mich nicht kümmern, was mit dem Drecksack ist! Wenn er stirbt, kannst du ihn ja aufschneiden! Verflucht, ich hab eine Scheiß-Nacht hinter mir, Jules! Ich hab diesen Köter meterweit hierher getragen und bin fertig! Mach das Beste draus!“
Schon hob er abwehrend die Hände und gab still klein bei. Es musste nicht sein, dass er sie noch mehr auf die Palme brachte, sonst würde sie ihren Zorn doch nur wieder an dem armen Teufel auslassen.
Somit ließ Jules von ihr ab und beugte sich zu dem verletzten Körper hinunter. Das dunkle Fell tropfte nass den Boden voll, roch erbärmlich und war teilweise schon verkrustet von dem schwarzen Blut. Wie ein Mantel bedeckte es den Leib, Hände und Füße blieben nackt, und die Nägel waren Krallen, die der Wolf scheinbar wie eine Katze etwas einziehen konnten. Das würde er sich später noch mal genauer ansehen …
Er drehte das fremde Wesen auf den Rücken und untersuchte die riesige Schädelmaske. Zähne, Schnauze, Ohren, Haare – die Verkleidung musste zum Leben erwachen, wenn er zum Tier wurde. Ein Formwechsel, Metamorphose – selbstverständlich hatte Jules an so was bereits gedacht. Zögerlich griff er nach dem Kiefer und zog die Maske wie eine Kapuze vom Kopf des Mannes.
Das Gesicht darunter hatte sehr menschliche Züge. Der Dämon wirkte relativ jung, human gedacht irgendwo in den Ende Zwanzigern oder Anfang Dreißigern. Er besaß kantige Wangenknochen und ein starkes Kinn, eine gerade Nase und seine Augen hatte eine exotische Form, wie er sie maximal den Asiaten zugeschrieben hätte, wenn überhaupt. Das Kopfhaar war rund sieben Zentimeter lang, struppig und schwarz wie sein Pelz. Die Hautfarbe ging mehr ins gräuliche und seine dünnen Lippen, die leicht geöffnet waren, dass er die Reißzähne und das schwarze Zahnfleisch sehen konnte, erinnerten an dunkle Bleistiftstriche.
„Interessant“, verkündete Jules seine ersten Erkenntnisse laut, „sein Blut ist schwarz. Darum ist die Haut grau und alles weitere, was unser rotes Blut rot oder rosa färbt, ist auch schwarz – beziehungsweise grau. Das ist faszinierend.“
„Und wie sieht es sonst mit ihm aus? Hat ja einiges abbekommen“, meinte Dani gefasst und beschaute sich das zerschlagene Gesicht. Es war übersät von Krallenspuren und Prellungen. Blut rann aus dem Mundwinkel und ließ innere Wunden vermuten.
Jules öffnete den knopflosen Kragen des Fellmantels. Der Hals war aufgebissen, die Kehle lag frei und zuckte leicht. Die blutigen Risse gingen tief und lang durch das graue Muskelfleisch, das von dunklen Adern und weißen Sehnen durchzogen war.
„Dass der echt noch leben soll – igitt!“, zischte der Professor überraschend und schüttelte die Hand aus. An den Fingern klebte nicht nur der flüssige Teer, sondern auch ein klares, sehr schleimiges Sekret, das vom Fell abgesondert wurde und furchtbar nach Raubtier stank.
„Was ist das?“, wollte Dani trotz allen Widerwillens wissen.
„Keine Ahnung“, grummelte er verstimmt, aber als er das Fell weiter von der Haut abzog, glibberte das Zeug erneut an ihm. „Scheint eine Art … Klebstoff oder … Schutzschicht zu sein. Hält vielleicht in dieser Form das Fell fest, ich weiß es nicht …“
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