290 Millionen Kilometer ist schon eine gigantische Entfernung. 16 Minuten brauchen die Signale bis zur Erde. Wie lange würden Signale vom Rande des Weltalls bis zur Erde brauchen? Ich mochte nicht anfangen, dies auszurechnen. Die Recherche reichte mir, endgültig und unwiderruflich auszuschließen, dass die provokanten Anrufe aus dem Jenseits kommen. Bis zu dem Tag, an dem der nächste Anruf kam.
Als das Telefon eines Nachmittags schrillte, sondierte ich gerade am Computer die Tabelle der Bundesliga und griff nebenbei so einfach mal zum Hörer.
„Ja,“ sagte ich arglos.
„Dad, schön dich zu hören“, sagte die Stimme. Und ich war überrumpelt. Ich hatte geglaubt, für diesen Moment gerüstet zu sein, aber ich war es nicht. Ich war es nicht. Ich hatte keine Strategie, wie ich auf die neuerliche Ungeheuerlichkeit reagieren sollte. So ließ ich sie denn geschehen. Neugierig war ich ohnehin. Und warum nicht mit diesem verrückten Weib ein paar Worte wechseln. Immerhin fand ich zunächst zu einer brüsken Antwort.
„Sie sind nicht meine Frau!“ knurrte ich. „Sie können es nicht sein!“
„Das weiß ich nun wirklich besser.“
„Aha!“ sagte ich etwas verwirrt. „Und? Was soll das Ganze? Was wollen Sie von mir?“
„Wie geht es unseren Kindern?“ bekam ich zur Antwort.
„Ziehen Sie nicht auch noch meine Kinder in dieses absurde Theater“, rief ich empört.
„Dad, das ist bitter, dass Du mir misstraust. Ich verstehe es ja, es ist ungeheuerlich, aus irdischer Sicht wirklich ungeheuerlich. Aber erkennst Du nicht wenigstens meine Stimme?“
„Nein!“ sagte ich trotzig, obwohl ich unsicher war.
„Nein?“
„Nein!“ wiederholte ich.
„Ach, das wird an der Entfernung liegen“, reagierte die Stimme, „die Signale sind wohl so ein paar Tage unterwegs. Da verzerren sich wahr-scheinlich die Töne. Ich erkenne Deine Stimme gut. Du sprichst immer noch so ein bisschen sächsisch.“
Das traf mich ins Herz. Mein Leben lang war ich mein Sächsisch nicht ganz los geworden. Nun wurde es mir sogar aus dem Jenseits bescheinigt.
„Hören Sie auf mit dem Theater!“ brüllte ich, „geben Sie endlich zu, wer Sie sind! Bitte, wer auch immer Sie sind, ich lade Sie ein zu mir! Dann können wir Ihr Problem in Ruhe abklären.“ Ich hatte die Fassung verloren und ausgesprochen cholerisch etwas versprochen, was mir eigentlich nicht in den Sinn hätte kommen dürfen.
„Oh!“ reagierte die Stimme ungerührt. „Bei mir kommt gerade der Brecht vorbei. Er telefoniert auch. Hier ist die Telefonitis ausgebrochen. Entschuldige! Aber das geschieht nicht so oft, dass ein großer Dichter bei mir vorbeikommt. So viele gibt es ja nicht. Die sitzen meist zusammen und diskutieren. Die ganz Großen. Aischylos, Sophokles, Euripides, Shakespeare, Goethe, Schiller und die alle. Auch der Müller.“ Und unvermittelt: „Weißt Du, am besten Du beruhigst Dich erst einmal. Ich melde mich wieder.“
Stille! Absolute Stille. Nicht einmal ein Rauschen in der Leitung. Mir aber schwindelte. Was war da jetzt passiert? Hatte ich mir nicht in den letzten Tagen absolut klipp und klar gemacht, dass diese Anrufe nie und nimmer aus dem Jenseits kommen konnten? Und nun?
Ich legte mich auf die Couch und starrte an die Decke. All meine Sinne forderten mich auf, diese elende Story aus meinem Leben zu bannen, endlich bewusst und souverän darüber hinwegzugehen, mich nicht immer wieder beeindrucken zu lassen. Aber ich hatte soeben leibhaft und lebendig telefoniert! Oder? Hatte ich geträumt? Nein, ich hatte mit einer realen Stimme gesprochen, woher auch immer sie erklungen sein mochte. Ich hatte mein Telefon in der Hand gehabt und mich mit einer menschlichen Stimme unterhalten. Und dabei absurde Dinge erfahren. Brecht lief da also herum und telefonierte! Eine Telefonitis sei ausgebrochen! Hieß das, dass alle Jenseitser mit ihren Angehörigen hier auf der Erde telefonieren? Und dass hier nicht eine Zeitung davon erfährt? Nicht einmal die „Bild“-Zeitung?
Ich sprang auf. Ich fürchtete, verrückt geworden zu sein. Wie ein eingesperrtes wildes Tier tigerte ich in meinem Haus herum. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich fingerte im Flur wirr an den dort abgelegten Tageszeitungen herum, ich rannte in die Abstellkammer, um den Staubsauger zu holen und ließ davon ab, ich hantierte in der Küche kopflos mit dem für die Spülmaschine bereit gestellten Geschirr, ich landete vor meinen Büchern und kramte herum. „Die Pest in London“ von Daniel Defoe fiel mir in die Hand. Ich hatte das Buch zwar schon ewig im Regal stehen, aber noch nie gelesen. Ich hockte mich nieder und blätterte darin herum.
„Und nun,“ las ich, „war allerdings die Arbeit des Wegschaffens der Toten mit Wagen so widerlich und gefährlich geworden, daß darüber geklagt wurde, die Träger trügen keine Sorge, solche Häuser auszuräumen, deren Bewohner sämtlich tot waren, sondern manche Leichen lägen unbeerdigt, bis die Nachbarhäuser durch den Geruch belästigt und folglich angesteckt würden…“ Ich klappte das Buch zu. Der Satz traf zwar überraschend irgendwie meine Gemütslage, aber er hielt mich davon ab, nun wirklich zu lesen. Mein Elend reichte mir vollkommen.
Trostlos schaute ich mich um. Ich kam mir vor wie die Pflanzen, die am Fenster standen und in einem erbärmlichen Zustand waren. Ich hatte sie total vernachlässigt die letzte Zeit. Die Blätter hingen vertrocknet herab, die Blüten hatten sich nicht einmal geöffnet. Wenn ich mich mit diesen Gewächsen verglich, dann, schien mir, war eigentlich gar kein so großer Unterschied. Mein Zustand war ebenso erbarmungswürdig wie der dieser Geschöpfe. Doch wer erbarmte sich meiner? Ich musste selbst zurechtkommen, musste mich aufraffen und mich der widerlichen Situation stellen.
Da schrillte das Telefon. Die Irre schon wieder! Das kann doch nicht sein! Ich ging nicht hin, blieb hocken, griff erneut zu dem Buch, las die letzten Zeilen: „Ein furchtbar Pestjahr hat’s in London Anno fünfundsechzig gegeben; verschlang’s doch hunderttausend Seelen, ich aber, ich blieb am Leben.“ Ja, am Leben! Am Leben! Mochte es die Jenseitser nun geben oder nicht, sie alle, die großen Dichter wie die kleinen Leute, würden sie tatsächlich als Gespenster irgendwo in den ewigen Jagdgründen wandeln, waren nicht mehr am Leben! Welche Genugtuung. Ich erhob mich und beschloß, meine Pflanzen ordentlich zu gießen.
Ich hatte das Telefon vergessen, hatte gar nicht mehr wahrgenommen, wie lange es lärmte. Nicht allzu lange, wie mir jetzt schien. Mit verhalten aufkommendem Tatendrang füllte ich die kleine Gießkanne und begann, meine verkümmerten Pflanzen zu wässern. Und kam nicht weit; denn das Telefon meldete sich erneut. Ich hielt ein. Irgendwie war ich jetzt in einer Verfassung, die ich für stabil genug hielt, mich diesem irren Frauenzimmer noch einmal zu stellen. Irgendwann würde der Dame dann schon einmal die Lust vergehen, von mir immer wieder angeblafft zu werden.
Entschlossen trat ich zum Telefon. „Ja!!“ sagte ich.
„Hallo!“ rief da jemand fröhlich.
„Bitte!“ reagierte ich ungeduldig.
„Ich bin die Simone! Prima, dass es Dich noch gibt!“
Was war denn das nun wieder? Noch eine Frau? War mir je eine Simone begegnet? Ich konnte mich auf die Schnelle nicht erinnern. Sollte ich auflegen? Ich entschied, erst einmal nicht unhöflich zu sein. Schließlich musste das nicht schon wieder ein Anruf vom Endes des Universums sein.
„Was wünschen Sie?“ fragte ich ungnädig.
„Entschuldige!“ bekam ich zur Antwort. „Wir kennen uns von der Schauspielschule.“
„Ah, ja, jetzt erinnere ich mich! Simone , joi! Was verschafft mir die Ehre?“
Die Simone , das war eine ziemlich kapriziöse Frau, zwar nicht von umwerfendem Liebreiz, eher spröde und etwas arrogant, aber kommunikationsfreudig und mehr oder weniger offenkundig auf Männer fixiert. Auch mich hatte sie einmal im Visier gehabt, aber ich hatte tapfer widerstanden. Daran musste ich natürlich sofort denken. Steckte sie etwa hinter diesen absurden Anrufen? Versuchte sie es nun sozusagen mit offenem Visier? Nach so langer Zeit? Neue bohrende Fragen.
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