Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspielregisseur und war Schauspieldirektor in Darmstadt und Bern. Als Dozent arbeitete er an Theaterhochschulen in Zürich, Berlin und Salzburg. 2003–2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006–2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. Nach «Tanner», «Das Gesetz des Wassers» und «Wintertauber Tod» ist «Der Salamander» der vierte Kriminalroman mit dem Ermittler Simon Tanner. Urs Schaub lebt in Basel.
URS SCHAUB
DER SALAMANDER
Ein Tanner-Kriminalroman
PROLOG
Der Zug bremste scharf und ohne Vorwarnung, die Räder kreischten, dann stand der Zug bockstill. Tanner fiel das schwere Buch, das er gerade zu lesen begonnen hatte, aus der Hand.
Schnell hob er es auf, wischte die beschlagene Fensterscheibe frei und bemerkte überrascht, dass er bereits am Ziel war. Im ersten Moment hatte er an eine Notbremsung gedacht, aber er erkannte durch den Nebel den trostlosen Bahnhof mit der merkwürdigen Buchstabenfolge im Ortsnamen.
Drei aufeinander folgende Vokale in einem Wort waren ungewöhnlich. Allerdings sprach man sie heutzutage wie einen einzigen aus. Früher war das anders. Und so klang der Name des Dorfes heute wie «fou», verrückt, geistesgestört, auch wenn er ursprünglich etwas ganz anderes meinte. Die eigentliche Bedeutung des Dorfnamens – im Wappen war dies erkennbar – bezeichnete das einzige Auge in der Vogelwelt, das nicht sehen konnte. Eine Art natürliches trompe-l’oeil.
Da Tanner außer seinem dunklen Wollmantel nur das Buch und eine Ledertasche bei sich hatte, war er blitzschnell an der Tür, öffnete sie und verließ stolpernd den Zug, der sich sofort wieder in Bewegung setzte. Das Buch fiel ihm dabei noch einmal aus der Hand, diesmal in eine tiefe Wasserpfütze. Es hatte sich geöffnet und lag mit den Schriftseiten nach unten komplett unter Wasser.
Idiot!
Tanner murmelte es wütend vor sich hin, ohne die Ironie zu bemerken, denn der Titel des Buches hieß ebenso und schimmerte in Goldprägung durch das trübe Wasser der Pfütze.
Das tropfende Buch in der Hand, eilte er unter das Vordach des kleinen Bahnhofs, ließ Mantel und Tasche auf die abgewetzte Wartebank fallen. Dem Ledereinband konnte das Wasser nicht viel anhaben, aber die Papierseiten begannen sich sofort zu wellen und klebten aneinander fest. Eine Dünndruckausgabe.
Tanner stöhnte.
Ausgerechnet das Buch, das sie ihm in letzter Minute zum Abschied in die Hand gedrückt hatte. Er hatte es praktisch die ganze Reise über in seinen Händen gehalten, ohne es aufzuschlagen. Die meiste Zeit hatte er gedöst oder vor sich hingeträumt, manchmal mit geschlossenen, häufig mit offenen Augen. Immerhin hatte er ziemlich genau vierundzwanzig Stunden in Zügen verbracht. Die verschiedenen Landschaften und Städte waren an ihm vorbei geflogen, ohne dass er besonders Notiz von ihnen genommen hätte. Er fühlte sich eher von etwas Unbenennbarem durchdrungen und seelisch sonderbar aufgeweicht durch die unzähligen Eindrücke, die er mehr unbewusst in sich aufgenommen hatte.
Er musste über das Wort aufgeweicht lächeln.
Das Buch in seinen Händen war es auf jeden Fall.
Erst nachdem er im Bezirksstädtchen mit der Ringmauer ein letztes Mal umgestiegen war, beschloss er, das Buch aufzuschlagen. Er schaffte gerade mal den ersten Satz, denn einerseits war die Distanz zwischen dem Bezirksstädtchen und dem Dorf, in dem er seit einiger Zeit wohnte, ziemlich kurz, und andererseits hatte er zuerst versucht, die Widmung zu entziffern, die ihr Vater für sie geschrieben hatte. Er hatte es nicht geschafft, er war sich nicht einmal sicher, in welcher Sprache die Widmung geschrieben war. Das Problem hatte sich nun sozusagen von selbst gelöst, sogar wahrhaft auf gelöst, denn durch das Bad in der Pfütze hatte sich die handschriftliche Widmung in eine türkise Tintenwolke verwandelt, die an einen Salamander erinnerte. An einen, der allerdings nur drei Beine hat.
Fröstelnd bemerkte er jetzt, wie kalt und feucht es war, und er zog den Mantel über.
Gegen die dicken Nebelschwaden hatte das Tageslicht große Mühe, sich durchzusetzen, obwohl es bereits mehr als neun Uhr war. Trotzdem beschloss er, noch einen Augenblick sitzen zu bleiben.
Er blinzelte durch das gelbe Licht des trüben Novembertages und versuchte, die dichten Nebelschwaden zu durchdringen, denn normalerweise waren von dieser Bank aus immerhin ein kleiner Ausschnitt des Sees und gleich dahinter sein geliebter sanfter Hügel, in noch weiterer Ferne die schneebedeckten Jurahöhen in Richtung Frankreich zu sehen. Davon existierte heute rein gar nichts, die ganze Welt schien wie von einem überdimensionierten Gummi ausradiert, der nichts als schmutziges Papier zurückgelassen hatte.
Dafür bemerkte Tanner jetzt, dass er offenbar nicht als einziger ausgestiegen war. Vielmehr tauchte aus dem Nebel eine Erscheinung auf, eine Gestalt, die leicht zu schwanken schien und sich mit langsamen, unsicheren Schritten näherte. Je näher sie kam, desto mehr Kontur gewann sie.
Es handelte sich um einen jungen Mann, der bloß einen dünnen dunkelgrauen Anzug trug, der ihm eindeutig zu weit war, dafür aber – wie zum Ausgleich – die Hosenbeine zu kurz. Er trug weder Schal noch Mantel, und seine schwarzen Halbschuhe schienen auch für wärmere Zeiten gedacht. Seine beiden Arme umklammerten vor der Brust einen kleinen Koffer, wie er schon lange nicht mehr in Mode war. Der junge Mann trug den Koffer so, als sei entweder der Inhalt des Koffers sehr wertvoll oder als solle er seine schmale Gestalt vor der feuchten Kälte schützen.
Tanner schätzte sein Alter auf etwa siebenundzwanzig, höchstens dreißig Jahre. Er war von mittlerer Größe, mit sehr hellem, dichtem Haar, eigenartig hohlen Wangen, unrasiert, was aber bei dem hellblonden Haar optisch kaum ins Gewicht fiel, außer dass sein Gesicht an möglicher Schärfe verlor und dadurch etwas Flüchtiges, etwas Ungefähres bekam. Seine Augen waren groß und sehr dunkel, fast schwarz. In ihrem Blick lag etwas Stilles, aber Bedrücktes. Tanner musste unwillkürlich an eine gewisse Art von Radiomeldungen aus seiner Jugendzeit denken, wo es um gesuchte Menschen ging, die irgendwie verloren gegangen waren und wo der Meldung am Ende wie das Amen in der Kirche jeweils diese Aufforderung folgte: Es wird um schonendes Anhalten gebeten.
Der junge Mann hatte jetzt Tanner bemerkt, und nach einem Moment des Zögerns lächelte er und kam direkt auf ihn zu. Sein Gang war holprig und unregelmäßig, als drücke ihn ein spitzer Stein im Schuh.
Guten Tag, äh … Entschuldigung … wenn ich Sie einfach so, äh … anspreche, aber ich kenne mich hier nicht aus. Sind Sie, äh … von hier?
Er sprach stockend und langsam, als ob er schon lange nicht mehr gesprochen hätte. Als ob er die Sprache vorsichtig tastend wieder finden müsste. Vielleicht hatte er sich auch länger in einer anderen Sprache ausgedrückt. Ein leichter Akzent war zu hören, den Tanner aber nach den paar Worten nicht zu lokalisieren imstande war.
Ich wohne zumindest hier. Womit kann ich Ihnen helfen?
Sind Sie auch gerade, hm … also, ich meine, hm … mit dem Zug angekommen?
Ja. Gerade eben.
Er schüttelte sich leicht. Den Koffer umklammerte er immer noch vor seiner Brust.
Es ist, äh … sehr kalt … und …
Er zuckte mit den Schultern, blickte sich um und lächelte erneut.
Sind Sie etwa aus einem wärmeren Land angereist?
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