Tanner beugte sich vor.
Ich würde sehr gerne noch ein Beispiel hören.
Der junge Mann blätterte in seinem Büchlein. Dann hatte er es gefunden.
Er blickte zu Tanner.
Es ist aber ziemlich lang.
Tanner lehnte sich zurück.
Wir haben Zeit. Bitte.
Auch Stauber zeigte mit einer Geste großzügig seine Bereitschaft an.
Es ist eigentlich ein Lied. Es heißt: Da unten im Tale. Ich habe vergessen, wer es geschrieben hat.
Der junge Mann holte tief Luft.
Da unten im Tale, läuft’s Wasser so trüb. Und ich kann dir’s nit sagen, I hab’ di so lieb.
Er machte eine kleine Pause.
Sprichst allweil von Lieb’, sprichst allweil von Treu’. Und a bissele Falschheit is au wohl dabei.
Hier stockte der junge Mann ein wenig.
Und wenn i dir’s zehnmal sag’, dass i dir lieb, und du willst nit verstehen, muss i halt weitergehen.
Er blickte auf.
Jetzt kommt der letzte Vers.
Er holte noch einmal tief Luft.
Für die Zeit, wo du g’liebt mi hast, dank i dir schön, und i wünsch, dass dir’s anderswo besser mag gehen.
Er starrte weiter auf das Blatt, obwohl der Text offenkundig zu Ende war, dann blickte er zu Tanner. Tränen liefen ihm über seine Wangen. Er wischte sie weg und lächelte.
Das ist schön, oder?
Tanner seufzte.
Ja, das ist schön.
Stauber äußerte sich nicht und war mit seiner Zigarre beschäftigt. Dann erhob er sich.
So. Ich muss weiter. Die Herren entschuldigen mich. Herzlichen Dank für den beeindruckenden Vortrag, junger Mann. Ich wünsche Ihnen viel Glück in Ihrem neuen Lebensabschnitt. Bodmer, die Rechnung!
Er wandte sich an den jungen Mann und drohte spielerisch mit dem Finger.
Und – bleiben Sie sauber.
Dann holte er eine Geschäftskarte aus seinem Portemonnaie.
Hier meine Karte, falls sie eine Arbeit suchen. Ich habe ein Bauunternehmen.
Der junge Mann erhob sich überrascht.
Vielen Dank für das Angebot. Das ist sehr, äh … großmütig.
Stauber zog umständlich seinen Mantel an. Er blickte lächelnd zu Tanner.
Am Schluss kriegt man ja noch das heulende Elend.
Bodmer brachte auf einem kleinen Tablett die Rechnung. Der Geschäftsmann legte eine Note darauf.
Es ist dann recht so.
Er lachte in die Runde.
Nur nicht knausern, sage ich immer, nur nicht knausern.
Bodmer bedankte sich.
So. Meine Herren. Ich wünsche noch einen schönen Abend.
Stauber verließ mit Bodmer den Raum in Richtung Schankstube.
Wussten Sie, Bodmer, dass Ihr Gast direkt aus dem Gefängnis kommt? Ich würde Ihnen anraten, schließen Sie Ihre …
Der Rest seiner Worte ging im allgemeinen Stimmengewirr unter, und gleich darauf schnitt die Verbindungstür zur Schankstube alle Geräusche wieder ab.
Tanner blickte zum jungen Mann.
Machen Sie sich nichts draus. Sie haben ja gesehen …
Sie haben recht. Er ist sehr gefangen, äh … in seinen, mh … Sie verstehen, was ich meine, oder?
Ja, klar.
Beide schwiegen eine Weile.
Was hat man Ihnen denn in Spanien vorgeworfen? Sie müssen die Frage natürlich nicht beantworten.
Doch, doch. Das erzähle ich Ihnen gerne. Man hat bei der Einreise in meinem Gepäck für ungefähr zweihunderttausend Franken Drogen gefunden. Kokain. Das wars dann. Eine kurze, äh … Verhandlung am Gericht und ab in den Knast nach Salamanca.
Tanner pfiff durch die Zähne.
Und Sie haben natürlich keine Ahnung, wer Ihnen das Paket in Ihr Gepäck geschmuggelt haben könnte?
Der junge Mann blätterte eine Weile gedankenverloren in seinem Büchlein. Hatte er die Frage nicht verstanden? Plötzlich stand er auf und machte wieder diese kleine Verbeugung, die Tanner schon kannte.
Ich bedanke mich sehr für, äh die Suppe und die, ähm … ich meine, das Verständnis und die, äh … Anteilnahme, die ich bei Ihnen verspürt habe. Sie müssen mich jetzt entschuldigen, aber es wird Zeit für mich.
Er bückte sich, nahm seinen Koffer auf und ging quer durch den Raum. Kurz vor der Tür hielt er nochmals an, drehte sich aber nicht um.
Doch. Ich weiß, wer mir das angetan hat.
Er nickte noch zweimal mit seinem Kopf, wie zur Bestätigung, und dann ging er stumm durch die Tür.
ZWEI
Am anderen Morgen rief Bodmer an. Tanner schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. Draußen war es noch dunkel.
Es tut mir leid, dass ich so früh anrufe, aber die Sache ist mir nicht geheuer.
Tanner rieb sich die Augen.
Aha. Welche Sache denn?
Ja, eben … mit diesem Jean D’Arcy.
Wer soll denn das sein, Bodmer? Ach, so! Ist das der junge Mann, Ihr Gast?
Ganz genau. Kannten Sie seinen Namen nicht? Sie haben ihn doch zu mir geschickt, oder irre ich mich da?
Nein, ich kannte seinen Namen nicht. Ich habe ihn gestern Morgen am Bahnhof getroffen, das heißt, wir sind aus demselben Zug ausgestiegen. Er hatte mich nach einer Unterkunft gefragt.
Ach so.
Soll ich die Leute in Zukunft zur Konkurrenz schicken?
Bodmer lachte.
Nein, nein. So habe ich das nicht gemeint.
Tanner öffnete mit einer Hand ein Fenster und ließ die kalte Morgenluft herein.
Also, Bodmer, was ist Ihnen denn nicht geheuer?
Ja, wie soll ich sagen? Erstens haben wir in der Nacht merkwürdige Geräusche gehört, dann habe ich um halb sechs an seine Tür geklopft, und er antwortet nicht.
Was meinen Sie mit merkwürdigen Geräuschen? Und warum haben Sie denn um Gottes willen so früh an seine Tür geklopft?
Es klang irgendwie, als habe er die Möbel rumgeschoben.
Aha. Vielleicht wollte er in eine andere Richtung schlafen. Es gibt Menschen, die sind da sehr sensibel.
Ja, kann ja sein. Es klang aber irgendwie merkwürdig, auch der Zeitpunkt. Und wegen der frühen Stunde: Er hat mich gestern Abend darum gebeten! Ich sollte ihn am Morgen um diese Uhrzeit wecken.
Und jetzt antwortet er nicht? Und die Tür ist abgeschlossen, nehme ich an – und der Schlüssel steckt von innen, oder?
Genau so ist es.
Vielleicht hört er einfach Ihr Klopfen nicht? Vielleicht hat er ein starkes Schlafmittel eingenommen und schläft tief und selig. Könnte doch sein, oder?
Ja, könnte sein, aber ich glaube es nicht. Äh …, Tanner, könnten Sie nicht vielleicht auf einen Kaffee vorbeikommen? Mir ist einfach nicht wohl.
Hat dieses Unwohlsein vielleicht etwas damit zu tun, dass Ihnen gestern Abend der andere Gast gesteckt hat, dass D’Arcy im Gefängnis gewesen ist?
Woher wissen Sie …?
Es war ja indiskret genug, nicht wahr. Abgesehen davon: wieso rufen Sie eigentlich mich an? Wenn Sie sich wirklich Sorgen machen, müssten Sie doch die Polizei rufen.
Bodmer schnaufte durchs Telefon.
Ja … aber Sie sind doch … äh, nein, natürlich nicht, aber äh … ich dachte, Sie kennen diesen jungen Mann und …
Gut Bodmer, jetzt bin ich ja eh schon wach. Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen, wenn es Sie beruhigt.
Bodmer stand an der Tür, als Tanner den Platz vor dem Restaurant überquerte. Er hatte kurzerhand die Abkürzung durch den Garten des Hauses genommen, den steilen Abhang hinunter zu den Bahngleisen.
Meine Frau hat Ihnen bereits einen Kaffee zubereitet. Danke, dass Sie kommen.
Bodmer führte ihn in die Wirtsstube. Seine Frau stand hinter der Theke. Tanner begrüßte sie und nahm den Kaffee in Empfang.
Darf ich mal den ausgefüllten Meldeschein sehen?
Frau Bodmer holte den Meldeblock aus einer Schublade hinter der Theke.
Hier.
Tanner studierte den Zettel.
Außer dem Namen konnte man seine Nationalität lesen und dass er gestern von Frankreich her kommend in das Land eingereist war. Bei Wohnort hatte er eine Wellenlinie gemacht. Die Rubriken Datum, Unterschrift und Passnummer waren ausgefüllt. Es war eine auffällig zarte Schrift mit kleinen, regelmäßigen Buchstaben, da und dort etwas zittrig. Aber es waren leider viel zu wenige Wörter, um sich wirklich ein Bild machen zu können.
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