Urs Schaub - Tanner

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Die Spur eines ungewöhnlichen Verbrechens führt den suspendierten Kommissar Simon Tanner von Marokko ins romantische Grenzland zur französischen Schweiz: die grausamen Morde an kleinen Mädchen. Mithilfe des dicken Kommissars Michel und des zwergenhaften Butlers Honoré, der bei der reichen und verdächtigen Familie Finidori arbeitet, wühlt Tanner die Provinzidylle schnell auf und gerät dabei selbst in Lebensgefahr … Ein Kriminalroman von hinreißender Üppigkeit und seltener erzählerischer Kraft

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Wenn der suspendierte Kommissar Simon Tanner sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann er ganz schön hartnäckig sein. Außerdem liebt er Shakespeare und ist den Frauen ganz und gar verfallen. Als er von Marokko ins romantische Grenzland zur französischen Schweiz zieht, dann nicht der Landschaft wegen: Er folgt der Spur eines ungewöhnlichen Verbrechens, den grausamen Morden an kleinen Mädchen. Doch Tanners Ankunft in der Provinz bleibt nicht unbemerkt, und er gerät in Gefahr, da seine Nachforschungen vielen nicht gefallen. Selbst der zwergenhafte Butler Honoré, beschäftigt bei den Finidoris, einer der reichsten alteingesessenen Familien der Gegend, kann ihn schließlich nicht mehr schützen … Ein grandioser Erstling, spannend bis zur letzten Seite und von bestechender Sinnlichkeit!

Urs Schaub geboren 1951 arbeitete lange als SchauspielRegisseur und war - фото 1

Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspiel-Regisseur und war Schauspiel-Direktor in Darmstadt und Bern. Als Dozent arbeitete er an Theaterhochschulen in Zürich, Berlin und Salzburg. 2003 bis 2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006 bis 2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. «Tanner» ist der erste von vier Kriminalromanen mit dem charismatischen Ermittler Simon Tanner. Urs Schaub lebt in Basel.

Foto Yvonne Böhler

EINS

Das Dorf, das keine Kirche hat, liegt östlich vom See.

Wer es mit dem Auto erreichen will, fährt westwärts aus der Hauptstadt über eine spärlich befahrene Autobahn, verlässt sie dreizehn Minuten später, bei der dritten Ausfahrt nach dem Tunnel, umfährt das historische Städtchen am See, von dem es heißt, man könne getrost sterben, nachdem man es gesehen hat. Oder er fährt mitten durch das Städtchen, wenn er es nicht zu eilig hat, holpert über das Kopfsteinpflaster der Hauptgasse, setzt dann, falls er sich trotz allem für die Fortsetzung seines elenden Lebens entschieden hat, seine Fahrt auf der alten Welschlandroute fort, auf der einst Napoleon fuhr, bis zu dem kleinen Weiler, dessen Name auf das Korn zurückgeht, das hier im Mittelalter gemahlen wurde, biegt beim Schloss nach links, auf eine kleine, geteerte Nebenstraße, lässt die alte Mühle mit ihren Gehöften hinter sich, überquert eine Brücke, die über die Autobahn führt, erblickt unweit von dieser Stelle einen anmutigen Friedhof, fährt an diesem vorbei und befindet sich kurz danach mitten im Dorf, das keine Kirche hat.

Es wird auch nie eine haben. Keine Kirche.

Tanner fährt seinen alten Ford zu einem Bauernhof, der auch schon bessere Tage gesehen hat. Das wäre dann der erste gemeinsame Punkt.

Es ist sehr still.

Nachdem es wochenlang geregnet hat, erscheinen die Felder, die sonst Getreide, Mais, Kartoffeln und Zuckerrüben tragen, wie leer gewaschen. Nur der Raps lässt stellenweise sein scharfes Gelb erahnen.

Die Bäume strecken ihre Äste zum Himmel und ihre honigglänzenden Knospen sehen aus wie klebrige, zusammengeballte Kinderhände, die sich in stummer Klage gegen die noch unsichere Bläue des Himmels recken. Ein Himmel, der sich, ohne die dicken Wolken, die ihn die letzten Wochen und Monate verhüllt haben, noch seiner ungewohnten Nacktheit schämt.

Oder seiner Schuld.

Tanner bleibt sitzen und raucht einmal mehr seine letzte Zigarette. In dem Zimmer, das er in dem Bauernhof gemietet hat, sollte er wohl besser nicht rauchen. Kein Fernseher und kein Nikotin.

Mal sehen, was mir schwerer fällt, sagt er zu der kleinen Katze, die sich auf der warmen Motorhaube seines roten Ford niedergelassen hat. Ohne das geringste Geräusch ist sie auf das Auto gesprungen und liegt mit halb geschlossenen Augen da, als sei sie mit dem Metall verschmolzen.

Ist denn niemand da?, fragt er die Katze.

Jetzt blickt sie ihm in die Augen. Oder durch ihn hindurch? Möglicherweise sieht sie ihn wegen der Spiegelung der Frontscheibe gar nicht. Jedenfalls wartet er vergebens auf eine Antwort.

Das Fell der Katze ist rot mit weißen Flecken. Auch das Gesicht ist zweifarbig.

Die Grenzlinie verläuft schräg, quer über den Nasenrücken.

Genau diese Katze würde sie sich wünschen. Für einen Augenblick gestattet er sich, das schöne Gesicht von ihr zu sehen. Ein ebenmäßiges Gesicht.

Hör auf, Idiot.

Jetzt reagiert die Katze, obwohl sie ihn kaum hat hören können. Sie streckt sich und springt vom Auto hinunter. Elegant tänzelt sie um die vielen Regenpfützen und erreicht mit trockenen Pfötchen die verschlossene Haustür. Er öffnet die Autotür, nimmt einen letzten Zug von seiner Philip Morris und schnippt sie gezielt in die nächste Pfütze. Mit leisem Zisch erlischt die Glut. Die Katze schaut vorwurfsvoll.

Er bleibt sitzen und atmet die kühle Frühlingsluft.

Die Natur befindet sich in einer Art Stillstand. Alles scheint bereit zur Verwandlung. Noch ist es nicht so weit. Wer gibt das Zeichen? Wann?

Wird es für ihn, Tanner, auch ein Zeichen geben? Und welche Art von Verwandlung wird es sein? Stillstand ist Tod.

Einmal mehr befindet er sich auf der Flucht. Wovor? Wenn er das wüsste!

Das Dröhnen eines Traktors zerreißt die Stille. Ein grünes Ungetüm mit gläserner Fahrerkabine fährt vorüber. Er grüßt mit erhobenem Zeigefinger, obwohl er hinter dem Glas der Fahrerkabine nichts sehen kann. Die mächtigen Räder des Traktors durchpflügen das Wasser auf der Straße. Einige Spritzer landen auf dem Seitenfenster seines Autos. Die Katze bringt sich ängstlich hinter dem Geländer einer hölzernen Treppe in Deckung. Die Treppe führt in den ersten Stock.

Je größer der Traktor, desto dümmer …!

Er erinnert sich an die Reise mit seinem Kind nach Chioggia, wo die Fischer sich mit der Größe der Schiffsmotoren zu übertrumpfen suchen. Wie die weißen Fischerkähne stolz in die Lagune stechen, hohe Bugwellen vor sich aufwühlend, und die schweren Schiffsmotoren brünstig röhren.

Hochzeitstänze von schneeweißen Täuberichen.

Das muss ein reicher Bauer sein.

Sie leckt ungerührt die linke Pfote mit ihrer rosa Zunge.

Wenn du noch keinen Namen hast, werde ich dich Rosalind nennen. Und zwar nach der Shakespeare’schen Rosalind, mein Schätzchen.

Das Dröhnen des starken Motors verliert sich in den schattigen Eingeweiden des Dorfes. Er steigt aus seinem Auto aus. In der neuen Stille hört man Geräusche aus dem Stall. Eine Kuh erhebt sich schwer von ihrem Strohlager. Eine Kette rasselt. Kurz darauf ein Kratzen hinter der Haustür.

Erst jetzt bemerkt Tanner den gefalteten Zettel an der Haustür.

Beschrieben mit einem grünen Filzstift. Eindeutig eine Frauenschrift.

Lieber Herr Tanner, wir wussten die genaue Uhrzeit nicht, wann Sie ankommen würden. Wir sind bald zurück. Ihr Zimmer im ersten Stock ist parat. Den Schlüssel finden Sie oberhalb der Treppe, unter dem kleinen Teppich. Wir hoffen, Sie finden sich zurecht.

Unterschrieben mit Vorname und dem ersten Buchstaben des Familiennamens.

Den Vornamen wusste er nicht. Den Familiennamen kennt er natürlich von seinem Freund, der ihm das Zimmer vermittelt hat. Mit Familienanschluss. Wie er am Telefon verschmitzt kicherte.

Die Katze schlängelt sich unterdessen in Form einer lebenden Brezel zwischen seinen Beinen durch. Sie schmiegt sich katzbuckelnd an sein linkes Bein, den Schwanz hoch in die Luft, und schaut ihm durchdringend in die Augen.

Mach endlich die Tür auf!

Ja, ja, mein ungestümes Mädchen, lass mich doch erst mal sehen, wo ich da gelandet bin.

Nach der langen Fahrt ist er froh, an der frischen Luft zu sein und nicht mehr auf das endlos sich abspulende Band der Autobahn starren zu müssen.

Das Bauernhaus ist ein lang gestrecktes Haus, bestehend aus Wohnhaus mit zwei Stockwerken, zwei Ställen, die eine Scheune mit großen Toren flankieren. Darüber wölbt sich ein gewaltiges Dach. In das zweite Stockwerk des Wohnteiles führt eine hölzerne Außentreppe, deren Stufen von vielen Generationen ausgetreten sind.

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