Warum zum Teufel soll es nicht auch im Jenseits Fortschritte in der Forschung geben? Der Gedanke ist abwegig, ich weiß. Aber denkbar. Und ich dachte ihn damals. Und nachdem ich ihn gedacht hatte, war ich geneigt, die Anrufe der Fremden anders zu bewerten. Aber sie kamen nicht mehr. Die Irre schwieg. Und ich war es zufrieden.
Was indessen nicht verhinderte, dass ich hin und wieder dennoch darüber nachdachte. Und irgendwann schien es mir selbstverständlich, die Anruferin, sollte sie sich denn doch noch einmal melden, erst einmal ausreden zu lassen. Mit meiner verständlichen Empörung hatte ich bisher verhindert, mehr von dieser seltsamen Person zu erfahren. Offenbar hatte sie ein merkliches Mitteilungsbedürfnis. Warum sollte ich mir nicht einfach einmal anhören, was sie alles mitzuteilen hatte. Es war dies gewiss in der Summe ein erbärmliches Schauermärchen. Aber anhören könnte ich es mir schon. Aus Neugier. Warum auch immer. Jedenfalls nicht mehr brüsk ablehnen.
So begab es sich denn, dass ich auf einen Anruf der Fremden regelrecht wartete. Ich kam mir blöd vor, aber ich wartete. Ich fand mich saublöd, aber ich wartete. Ich hielt mich für superblöd, aber ich wartete. Mein Leben hatte einen anderen Zuschnitt bekommen.
Ich suchte Erbauung und Erholung in der Natur. Was ich auf Grund meines Alters schon aufgegeben hatte, setzte ich noch einmal auf die Tagesordnung. Ich mühte mich, meinen schönen Naturgarten wenigstens notdürftig zu betreuen. Was ob meiner körperlichen Hinfälligkeit ganz und gar nicht leicht fiel, auch täglich nur für kurze Zeit möglich war, mich dennoch erfreulich ablenkte.
Vor allem an meinem kleinen Fischteich wurde ich aktiv. Viel zu viel Fadenalgen hatten sich breit gemacht, sich obendrein innig mit der Wasserpest vermengt, deren Stengel bis zu 3 m lang werden können. Dadurch war der Raum für meine Fische arg eingeschränkt, vor allem für meine beiden Kois, die beide immerhin schon eine beachtliche Größe von mindestens einem halben Meter erreicht haben. Ich zerrte das Pflanzengemenge aus dem Teich, startete eine mühevolle Geduldsprobe, nämlich die Fadenalgen von der Wasserpest zu trennen und Letztere wieder in den Teich zurück zu geben. Die Fische dankten es mir, indem sie die frei werdenden Räume sofort inspizierten.
Auch die Seerose hatte eine Pflege nötig. Als ich eingriff, bat ich die Pflanze in gewissem Sinne um Vergebung, denn sie hatte nur getan, was ihr eigen war, nämlich sich auszubreiten. Eine in die Jahre gekommene Seerose beansprucht sehr viel Platz, weit mehr als ihr in meinem Teich zu Verfügung steht. Also entfernte ich viele Blätter, die unterm Wasser an langen Stielen hängen und als ein dichtes Gewirr den Fischen Platz wegnehmen.
Schließlich musste das höchst expansive Schilf reduziert werden. Was gar nicht so einfach ist. Die einzelnen Triebe sind im Teich fest im Wurzelwerk verankert, und sie herauszuziehen gelingt eigentlich nur, wenn sie im Frühjahr noch relativ lose sind. Sobald sie ihre normale Größe erreicht haben, kann man sie nur mit Gewalt herauszerren. Und dann hat man in der Regel auch allerhand Wurzel mit am Stengel. Ich war jedenfalls sehr schnell erschöpft und vertagte die Aktion.
Vielleicht hätte ich mir mehr Zeit nehmen sollen für geruhsame Schläfchen auf einer Liege im Grünen mit erbaulichem Blick auf Tannen, Fichten, Walnußbaum und Linde. Was wir vor Jahrzehnten gepflanzt haben, ist mittlerweile stattlich herangewachsen und ergibt eine zauberhafte Naturkulisse. Ich hätte sie viel mehr genießen sollen. Aber abgesehen davon, dass ich aus gesundheitlichen Gründen die Sonne meiden muss, hatte ich dazu im Moment ohnehin wenig Neigung. Mir fehlte einfach die innere Ruhe, die man braucht, um auf Müßiggang zu schalten. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, meine Homepage auf HTML5 umzubauen und bei Google auf einen Spitzenplatz zu bringen.
Als ich mich eines Tages bei angenehmem Wetter denn doch einmal auf eine Liege legte, um an der frischen Luft ein wenig zu ruhen, fand ich keinen Schlaf; denn ob nun gewollt oder nicht kreisten meine Gedanken im Nu erneut um diese mysteriöse Fremde. Es konnte einfach nicht sein, dass irgendwer aus solch gigantischer Entfernung, also zumindest vom Rande des Weltalls, ausgerechnet bei mir anrief. Alle Vernunft in mir sträubte sich gegen eine solche Wahrscheinlichkeit.
Schon stand ich auf und eilte zum Computer. Wie war das noch mit den Entfernungen im Weltall? Geht es da nicht um Lichtjahre? Also um die Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt? Ich habe das wirklich nicht auf dem Schirm. Also Google gucken. Und siehe da: Es sind 9,46 Billionen Kilometer. Unvorstellbar! Solche Strecke ist einfach unmenschlich. Obzwar es der Mensch ist, der sie misst, mit welchen Mitteln auch immer.
Machte es angesichts solcher gigantischen Dimension überhaupt Sinn, der Sache noch weiter nachzugehen? Aber nun saß ich einmal am Computer. Wenn der Anruf, überlegte ich, im günstigsten Falle vom Rande des Weltalls käme, dannn würde das welche Entfernung bedeuten? Um eine befriedigende Anwort zu finden, müsste man wissen, wie groß das Weltall überhaupt ist. Also ging ich der Sache weiter nach. Bei Google antwortete ein Astrophysiker: "Wenn wir ein Maßband an das Universum legen könnten, dann würden wir heutzutage einen Radius von 46 Mrd. Lichtjahren messen." Das Universum ist mithin, laut Aussage dieses Wissenschaftlers, von einem Ende zum anderen über 90 Milliarden Lichtjahre groß. Und da es bekanntlich noch immer mit unglaublicher Geschwindkeit auseinanderfliegt, die Strecke also von Tag zu Tag größer wird, ist es im Grunde unerheblich, ob sich die Anruferin am Rande des Universums befindet oder irgendwo sonst im Jenseits.
Eines war mithin unumstößlich klar: Wo auch immer die Erde im Gemenge des Universums herumkurven mag, die Entfernungen für einen simplen Telefonanruf waren zweifelsfrei unüberwindbar. Die sonnenklare Schlußfolgerung verschaffte mir irgendwie Befriedigung.
Als ich schließlich wieder auf meiner Liege lag, konnte ich sehr entspannt dem amüsanten Gewimmel der Feldsperlinge zuschauen, die in einem kleinen Wasserbecken munter und fidel ein Bad nahmen. Achtungsvoll stellte ich fest, dass Vögel irgendwie auch Individien sind. Manche von ihnen bleiben am Rande des Beckens sitzen, nippen nur ein bisschen Wasser, andere stecken den Kopf hinein, wieder andere springen geradezu kopfüber hinein und planschen ausgiebig. Ein lustiges, ein munteres Völkchen. Ganz offensichtlich ganz und gar ohne jegliche Lebensprobleme.
Womit ich gedanklich denn auch schon wieder bei meinem Problem war. Mir fiel ein, dass heutzutage menschliche Geräte im Weltall unterwegs sind, die Daten über beträchtliche Entfernungen übertragen. Der Mensch ist einfach zur Tagesordnung übergegangen. Aber es ist im Grunde ein echtes Wunder, dass zum Beispiel mein Navi im Auto immer genau weiß, wo ich mich mit meinem PKW just aufhalte, welche Straße ich fahre, und dass es mir den unbekannten Weg weist, wenn ich ihm mitteile, wohin ich will. Dienstbare Satelliten, die um die Erde kreisen, machen es möglich. Dabei geht es hier freilich nur um Bruchteile der Entfernungen im Vergleich zu der Dimension, die mich umtreibt.
Anders ist das schon bei den Instrumenten, die ins Universum ge-schickt werden, um uns von fernen Himmelskörpern Daten zu übermitteln. Geradezu ein Demonstrationsbeispiel scheint mir die Sonde „Osiris Rex“, die den Asteroiden Bennu umkreist und sich für diesen Zweck rund 290 Millionen Kilometer von der Erde entfernt befindet, weshalb ihre Daten-Signale etwa 16 Minuten bis zur Erde brauchen. Was diese Sonde vermag, ist mehr als ein echtes Wunder. Sie nähert sich dem Asterioden bis auf wenige Meter, greift dann mit einem Arm nach dem Staub, der durch Druckluft aus der Sonde aufgewirbelt wird, geht dann in ihre Umlaufbahn zurück und beginnt, die ermittelten Daten der Erde mitzuteilen.
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