Dann kam der dritte Anruf. Schriller als sonst schien mir die Klingel. Ich merkte auf. Für einen Moment zögerte ich. Einfach nicht rangehen, blitzte der Gedanke. Wer sollte sonst anrufen? Die Kinder konnten es nicht sein, sie pflegten es regelmäßg abends zu tun. Es konnte freilich auch solch ein Anruf sein, bei dem man am anderen Ende der Leitung ein Sprachgewirr vernimmt und dann eine Stimme in fremder, meist englischer Sprache auf einen einredet. Da pflege ich „thank you“ zu sagen und gleich wieder aufzulegen. Unterdessen tönte die Klingel. Ich griff zum Telefon.
„Ja?“ sagte ich.
„Ja, schön, du! Ich bin’s, Petra. Sei nicht zu überrascht.“
„Bin ich aber!“
„Musst du nicht! Das wird ganz normal! Wir können mit der Erde telefonieren.“
„Wer wir?“
„Wir Jenseitser.“
Mehr konnte ich nicht verkraften. Ich drückte die Austaste und legte das Telefon ab. Apathisch blieb ich sitzen, starrte ein Loch in die Gegend, spürte plötzlich, dass ich hemmungslos zitterte. Endlich fand ich meine Fassung ein wenig wieder, als ich zunehmend trotzig leise vor mich hin formulierte: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Immer wieder murmelte ich: „Das kann doch nicht wahr sein!“
Langsam wurde mir wohler, ich zitterte nicht mehr. Wie kann man derartige Unverschämheit unterbinden? Gibt es überhaupt ein Mittel? Vielleicht musste ich denn doch die Polizei einschalten. Und schon haderte ich wieder mit den Vorbehalten. Man würde mir nicht glauben. Man konnte es ja auch wirklich nicht glauben. Zaudernd erhob ich mich, versuchte wieder in Gang zu kommen. Ablenkung! Ja, ich brauchte jetzt irgendeine beruhigende Ablenkung. Irgendeine vulminante Aktivität, die mich voll in Anspruch nimmt, die alles Ungemach dieses Daseins vergessen macht.
Eine Idee erwachte, die schon vor geraumer Zeit aufgekeimt war, von mir aber schnell verworfen worden war. Ich war zu alt dazu. Jetzt jedoch schien mir das Alter unwichtig. Ich fand, dass mir eine Begegnung mit einer nackten Frau gut tun könnte, mich absolut ablenken würde, selbst wenn es bei mir nur dazu reichen würde, nach ihren bloßen Brüsten zu fassen. Oder vielleicht sogar tief in ihr sich öffnendes Heiligtum. Wer weiß, vielleicht würde mich das dann sogar zu mehr fähig machen.
Ich setzte mich an den Computer, wählte Google und verharrte. Welchen Begriff musste man eingeben, um zum Ziel zu kommen? Es musste so etwas wie ein Dienst sein, der Speisen ins Haus bringt. Ein Dienst, bei dem man sich eine dienstbare Frau bestellt, die nach geraumer Zeit vor der Tür steht, ohne irgendwelche moralischen Skrupel ins Haus tritt, sich ein wenig umschaut und willig mit zur Couch kommt. Man legt ihr das Geld hin, und sie zieht sich aus. Man macht artig darauf aufmerksam, dass man selbst nur eingeschränkt dienstbar sein kann und erntet ein verständnisvolles Lächeln. Und dann räkelt sich auch schon eine nackte und hoffentlich attraktive junge Frau auf der Couch. So in etwa.
Aber vorher muss man herausbekommen, wie man sich solch Erlebnis ins Haus holen kann. Also Google! Welcher Begriff? „Hausbesuch?“, „Willige Frau?“, „Erotischer Service?“ Jetzt rächte sich, dass ich ob meines Alters nie in diese Richtung recherchiert hatte. Schon bei dem Gedanken an solch ein Unternehmen, der mir immerhin hin und wieder gekommen war, hatte ich stets sofort das Empfinden, dass mir meine Frau im Wege stehen würde. Es würde mir einfach nicht möglich sein, ein erotisches Interesse für eine andere, für eine völlig fremde Frau zu erzeugen. Jetzt unterdrückte ich das Empfinden, jetzt stand es mir im Wege. Also los! Welcher Begriff? Ich verharrte neuerlich über der Tastatur.
Da schrillte das Telefon. Ich zuckte zusammen. War das schon wieder die irre Anruferin? Ich griff zum Telefon, schaute. Das Display leer, keine Information. Also tatsächlich! Die Irre!
„Ja!“ sagte ich böse und laut.
„Dad, ich versteh das doch. Es ist ungeheuerlich, ich weiß. Aber du musst dich daran gewöhnen…“ sagte die Stimme behutsam und geduldig.
Bebend vor Wut ließ ich meiner Empörung freien Lauf.
„Sie unverschämte Person!“ brüllte ich ins Mikrofon, „halten Sie die Fresse und lassen sie mich in Ruhe!
Ich drückte die Taste und rutschte in mich zusammen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich als Häufchen Unglück gesessen habe. Ich war zu keiner Bewegung fähig. Die Idee, die ich noch eben verfolgt hatte, war erloschen, war einfach weg. Eine Dirne wäre keine Antwort jetzt. Gab es überhaupt eine Antwort? Vermutlich nein. Ich war der Fremden absolut ausgeliefert. Nein, nicht absolut. Aber irgendwie eben doch.
Langsam, sehr langsam kehrte das Leben in mich zurück. Ich rang mich zu dem Entschluß durch, künftig den Anruf der Fremden zu ignorieren, sofort die Austaste zu drücken und zur jeweiligen Tagesordnung überzugehen. Das würde zwar Kraft kosten, müsste aber zu machen sein. Je mehr ich darüber nachdachte, desto ruhiger wurde ich.
Die Fremde ließ mich in Ruhe. Seltsamerweise war das aber genau das, was mich unruhig machte. Hatte mein energisches Gebrüll wirklich dazu geführt, dass sie die Lust verloren hatte, mich zu behelligen? Ich will nicht sagen, dass mir plötzlich etwas fehlte. Aber irgendwie war eine Rechnung offen geblieben. Zumindest hätte ich gern gewusst, wieso eine fremde Frau auf die Idee gekommen war, sich als meine Frau auszugeben und mich auf so unverschämte Weise zu kontaktieren. Es hätte ihr ja klar sein müssen, dass sich mit dieser Art teuflischen Charmes keine Beziehung herstellen lässt. Man macht zwar absolut auf sich aufmerksam, erzeugt aber nur Ablehnung. So doof kann eigentlich keine Frau sein.
Doch was ist die Alternative? Schon wenn ich die Frage stellte, wurde mir mulmig. Denn es keimte da ein Gedanke, dessen Entstehen ich eigentlich hätte unterbinden müssen. Der Gedanke, dass sich da tatsächlich so etwas wie meine Frau am anderen Ende der außerirdischen Leitung befinden könnte. Ein grundsätzlich völlig abwegiger Gedanke! Zweifellos!
Jedoch ein Gedanke mit Entfaltungsvermögen. Weil nämlich zur Zeit auf dieser Erde mit Hilfe der modernen elektronischen Technik Dinge möglich werden, die früher einfach undenkbar waren. Neuerdings zum Beispiel plant man, eine elektronische Verbindung zum menschlichen Gehirn zu schaffen. Noch wird an Schweinen experimentiert. Das Instrument, das - wie es heißt - Informationen zwischen menschlichen Neuronen und einem Smartphone übertragen können wird, hat einen Durchmesser von 23 Millimetern. Es muß in den Kopf implantiert und mittels feinster Drähte mit Nervenzellen verbunden werden. Wenn es funktioniert – und daran arbeitet die elektronische Forschung beharrlich -, kann es neurologische Signale lesen und auch senden. Ein Minicomputer mit sensationeller Perspektive also. Er wird für die Behandlung von Schmerzen, Sehstörungen und Hörverlust eingesetzt werden können, auch bei Schlaflosigkeit, Gehirnschäden oder bei Verletzungen des Rückenmarks. Mit Hilfe dieser Technologie wird es wahrscheinlich sogar möglich werden, verletztes Nervengewebe zu überbrücken und damit zu erreichen, dass behinderte Menschen wieder zu laufen vermögen. Und weil der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, träumen Wissenschaftler und Unternehmer bereits davon, mit Hilfe dieser Technologie ihre Gedanken auszutauschen, ohne sie aussprechen zu müssen. Auch hofft man, eines nicht allzu fernen Tages Gedanken unmittelbar auf Speicher zu übertragen oder auf Roboter, die man auf diese Weise steuert. Gruselig das alles.
Noch gruseliger ist die Vorstellung, dass künftig Autos autonom auf den Straßen verkehren. Auch hier sind Wissenschaft und Wirtschaft international im Wettbewerb. Damit alles seine Ordnung hat, wurde für das selbstfahrende Auto ein Levelsystem eingeführt. Beim ersten Level ist noch alles wie gehabt. Der Fahrer ist der Herr der Dinge und fährt sein Auto. Beim zweiten Level handelt es sich um sogenanntes teilautomatisiertes Fahren. Der Fahrer muss sein Fahrzeug zwar beherrschen, aber sein PKW kann manche Aufgaben zeitweilig selbst ausführen, zum Beispiel auf der Autobahn die Spur halten, bremsen und beschleunigen. Beim dritten Level, der Stufe der Hochautomatisierung, kann das Auto bestimmte Aufgaben für einen kurzen Zeitraum selbstständig und ohne Eingriff des Fahrers bewälti-gen. Der PKW überholt, ordnet sich wieder in die Spur ein, bremst, beschleunigt – je nachdem es die Verkehrssituation erfordert. Das wird wohl auf Autobahnen bald real werden. Der Fahrer kann dann zum Beispiel Zeitung lesen oder sich mit seinen Kindern auf dem Rücksitz beschäftigen. Das vierte Level, das vollautomatisierte Fahren, ist noch Zukunftsmusik. Der Fahrer wird die Führung seines Autos komplett abgeben können und zum Passagier werden. Das Fahrzeug bewältigt bestimmte Strecken, vornehmlich Autobahn und Parkhaus, völlig selbstständig. Das wohl Wichtigste bei diesem Level: Das System erkennt seine Grenzen, und zwar so rechtzeitig, dass es regelkonform einen sicheren Zustand erreichen kann. Beim fünften Level schließlich, beim autonomen Fahren, bewältigt die Technik im Auto alle Verkehrssituationen selbstständig. Himmel hilf, was da so alles auf uns zukommt.
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