Warum freuen sich die Menschen eigentlich so selten, wenn sie mich sehen? Bernhard Kaufmann ging es wie den meisten. Er wirkte abweisend, blies die Backen auf, grummelte und schmatzte. Doch wirklich - aber es half ihm nichts, ich wollte hinein und das schaffte ich auch.
Das Haus lag in der Ilzstadt, hatte einen gepflegten Vorgarten und eine eindrucksvoll gestaltete Hausnummer. Eine Doppelgarage und ein Springbrunnen gehörten zur Vorderansicht, und obwohl hier zwei Kinder zu Hause sein mussten, war das Haus penibel aufgeräumt. Im Arbeitszimmer durfte ich mich auf einen Besucherstuhl setzen und dem Besitzer ein paar Fragen stellen.
Mein Gott, was für ein Unterschied. Wenn Harry Kaufmanns Körper ein Tempel war, dann war sein Bruder eine Ruine, zumindest sein Gesicht. Den Rest verbarg er geschickt in einem maßgeschneiderten Anzug. Ich fragte ihn nach seinem Wahlkampf und ob das alles nicht sehr anstrengend wäre. Dann erst schwenkte ich zum eigentlichen Thema um. Sein Bruder und er hätten kaum Kontakt gehabt, sagte er und wahrscheinlich war das noch untertrieben. Bei einem solchen Unterschied musste es einfach Spannungen geben. Ich wollte auch keine Schwester, die aussah wie Sandra Bullock . Bernhard Kaufmann war sehr schweigsam an diesem Abend, ganz anders als in seinen Wahlkampfreden.
Zum Sprechen bringen wollte ich ihn, erwähnte das Diazepam und den grünen Sportwagen, aber natürlich hatte er keine Ahnung, wo er doch so mit seinem Wahlkampf beschäftigt war. „Er war schon als Kind nicht ganz einfach, aber deshalb wurde er ja wohl nicht umgebracht!“
Als ich vor die Haustür trat, begann der Regen gerade die Luft zu reinigen. Es tat gut, obwohl er meine Frisur ruinierte. Bevor ich ins Auto stieg, warf ich noch schnell einen Blick zurück. Im offenen Garagentor erkannte ich die dunkle Limousine und einen mittelblauen Zweitwagen für die Ehefrau. Grün gab es auch hier nicht und ein aufgemotzter Sportwagen hätte im Grunde ja auch gar nicht zu ihm gepasst.
Lange noch nachdem Bernhard weggefahren war, saß ich im Sessel und dachte über die beiden Brüder nach. Die Wolkenfront hatte sich verdichtet und die ersten Blitze schossen mit lautem Donner vom Himmel. Bis auf zwei Stehlampen hatte ich alle Lichter wieder gelöscht. Ich saß gern im Dunkeln und sah dem Gewitter zu. Vor den Fenstern fegte ein heftiger Wind Blätter und kleine Zweige vorbei und schlug sie gegen die Scheiben. Das Prasseln des endlich einsetzenden Regens war wie eine Erlösung für meine wunde Seele. Waschtag! Ich holte mir ein Glas Wein, legte die Füße hoch und trank es schnell leer.
Auf einmal sah ich Harry. Die Hände fest zum Gebet gefaltet, in einem mit weinrotem Samt ausgeschlagenen Sarg. Wie auf ein Zeichen hin versuchte er sich gegen den Deckel zu stemmen, frische Erde drang zu ihm herein und bedeckte seinen Körper. Zum Zuschauen verdammt war ich bei ihm, bis sein Kopf mit einem breiten Lachen im blassen Gesicht durch den frisch aufgeworfenen Grabhügel herausschaute. Gemeinsam beobachteten wir, wie hinter ihm eine tiefe, schwarze Grube entstand. Aus den hohen Bäumen drang Juttas Stimme zu mir: „Wenn das Grab einstürzt, stirbt bald wieder jemand aus der Familie, der Tote holt sich einen Kameraden, einen Kameraden, einen Kameraden...“ Ich hielt mir die Ohren zu. Harry würde so etwas nie tun, er liebt mich doch, oder vielleicht gerade aus diesem Grund?
Jetzt hatte er mich erkannt, seine Züge hellten sich auf. Ich wusste, es war ein Traum, aber ich konnte ihn nicht beeinflussen, wiederholte immer wieder: „Harry, komm her, halt mich fest!“ Aber je mehr ich ihn mir herbei wünschte, um so weiter entfernte er sich.
„Magdalena, das ist kein Ort für dich!“, mahnte er mich und löste sich langsam im Nebel auf. Zurück blieb ein offenes Grab, das auf mich zu warten schien.
Als ich wieder zu mir kam, tat mir alles weh. Natürlich war das kein Ort für mich, aber auch nicht für ihn. Ich holte mir Sylvias Pillendöschen, doch bevor ich eine nahm, las ich auf dem Etikett: Trockenextrakt aus der Baldrianwurzel und alles mögliche. Von Diazepam keine Rede. Ich trank noch ein Glas Wein hinterher und legte mich ins Bett. An die Decke starrend, wartete ich auf den Schlaf, ahnungslos gegenüber dem, was in nächster Zeit auf mich einstürzen würde.
Magdalena
Am nächsten Morgen wollte ich ein ausgiebiges Bad nehmen, aber dann kamen Sylvia und Julia. Sie brachten einen selbstgebackenen Kuchen mit und einen Kaffee, der Tote zum Leben erwecken konnte, nur eben nicht Harry.
„Du kannst nicht ewig Trübsal blasen, das Leben geht weiter, und Harry hat dich immerhin geliebt. So was erleben manche Menschen nie!“ Julia nahm ihren Teller in die Hand, lehnte sich zurück und erzählte von einsamen, ungeliebten Männern, die Tag für Tag und Nacht für Nacht zu ihr kamen.
Julia war eine Zauberfee, und das hielt ich für die hübscheste Umschreibung ihres Berufes überhaupt. Bei ihr durften die Männer sich wünschen, was sie wollten, Dinge, die sie sonst nirgends bekamen. Dafür bezahlten sie gerne.
Als ich zum ersten Mal davon erfuhr, war ich, wie wohl die meisten Menschen, erst einmal schockiert, versuchte mir ihr Leben auszumalen, ohne eine Ahnung davon zu haben. Ich musste einen Mann lieben oder wenigstens unheimlich anziehend finden, so wie Harry damals. Ohne Liebe war es für mich unmöglich, mit einem Mann zu schlafen. Julia konnte das, und verdiente dabei nicht schlecht. Trotzdem wurden wir Freundinnen. Wir respektierten einander.
Bei einem festen Kundenstamm war Julias Risiko relativ gering. Die Herren waren verheiratet, scheuten jeglichen Skandal und suchten in der Regel Abwechslung von ihrer lustlosen Ehefrau oder den richtigen Kick.
„Sag mal, Julia, vor ein paar Tagen stand so ein Typ mit Maske und langem schwarzen Mantel vor deiner Tür, wollte der was Bestimmtes?“, fragte Sylvia recht naiv.
Julia lachte, „natürlich wollte der was Bestimmtes, sonst wäre er ja nicht zu mir gekommen.“
„Mit einer Maske? Hast du so was öfters?“, wollte ich wissen.
„Manche brauchen das, und bei ihm ging es sogar noch weiter.“
„Ach!“ Sylvia legte ihre Gabel weg und beugte sich vor.
„Ihn törnen gut platzierte Schläge an, die Maske ist nur Teil seines Spieles. Aber sonst ist er total nett und unheimlich großzügig.“
„Und hast du es ihm ordentlich gegeben?“ Ich sah Sylvia mit schwarzen Lackstiefeln und Peitsche über einem armen wimmernden Mann stehen und auf ihn eindreschen. Das war wirklich zu komisch.
„Er ist verheiratet, da muss man sehr vorsichtig vorgehen, damit keine Andenken zurückbleiben, sonst kriegt er daheim Ärger.“
Sylvia ereiferte sich: „Aber das will er doch, oder?“ Sie sah mich fragend an.
Unwissend zuckte ich die Schultern. „Keine Ahnung!“ gab ich zu, denn Harry hatte so etwas nicht begeistert.
„Falls du es mal ausprobieren willst, nimm auf jeden Fall etwas Flaches, einen Tischtennisschläger zum Beispiel oder die Rückseite einer Haarbürste“, empfahl Julia und aß ihren Kuchen weiter, als hätte sie gerade irgendwelche Tipps über das Rühren von Knetteig gegeben.
„Das ist gar keine so schlechte Idee, wenn ich mir vorstelle, dass ich im Krankenhaus Tag für Tag schufte und es doch nie so weit bringen werde wie du, dann könnte ich mir wirklich vorstellen, in Zukunft für Geld Männer zu verhauen!“ Bei dieser Vorstellung verschluckte ich mich beinahe und außerdem bahnte sich bei mir ein Lachkrampf an.
„Du brauchst gar nicht zu lachen, Magdalena, ich trage mich schon lange mit dem Gedanken, dem Krankenhaus den Rücken zu kehren. Öffentlicher Dienst hin oder her, was hilft es mir, wenn sie jetzt öffentlich auf unserem Rücken sparen?“
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