Ich wollte sterben, hier und jetzt und für immer und ewig, und ohne mein Leid länger ertragen zu müssen. Aber man ließ mich nicht. Eine starke Hand fasste nach mir, bevor ich ganz zu Boden gehen konnte und zog mich an sich. Es war Bernhard. Die Art, wie er mich hielt, erinnerte mich an Harry und das allein tröstete mich mehr als seine Worte.
„Du musst jetzt ganz stark sein, ja“, sagte er und streichelte meinen Rücken. „Du darfst jetzt nicht aufgeben, ja!“ Er drückte mich sanft und im nächsten Moment blitzte eine Kamera auf. Entsetzt machte ich mich los.
Mir war heiß und mein Kopf schmerzte. Um mir Abkühlung zu verschaffen, wollte ich meine Jacke öffnen. Ich nestelte an den großen Knöpfen herum, ohne sie jedoch aufzubekommen. In diesem Moment trat Jutta zu uns, ergriff meine Hand, die stark zitterte, und schob mich in den Schatten einer großen Tanne. Oder hatte sie mich gar durchschaut? Meinen Versuch, Harry doch noch Gelegenheit zu geben, in meinen Körper zu schlüpfen?
Ich schaute zum Himmel, er war strahlend blau, mit einer einzigen gemütlichen Schäfchenwolke über mir, deren Umrisse mich entfernt an einen liegenden Menschen erinnerten. Ich ließ von meinen Knöpfen ab, es war unmöglich, Harry eine Chance zu geben. Letztlich glaubte ich auch nicht wirklich an eine solche Möglichkeit, und die Vorstellung, dass Harry da oben auf einer watteweichen Wolke über den Himmel schwebte und auf mich herunterschaute, gefiel mir ohnehin besser.
Während wir Harry das letzte Geleit gaben und uns anschließend am Grab versammelten, saß der Mann im dunklen Anzug wie ein falsch platziertes Mitglied im Schatten und langweilte sich. Mir war nicht ganz klar, wofür Bernhard so einen Mann überhaupt brauchte, bis er auf ein Zeichen seines Chefs herüberkam, ohne große Worte den Weg frei machte und die Wagentür öffnete. Erleichtert sank ich in das dunkelgraue Polster. Meine Augen waren leer geweint und ich wollte nur noch nach Hause. Bernhard tat mir den Gefallen.
Vor meiner Wohnungstür sah ich ihn bittend an. „Willst du vielleicht ...“, stotterte ich. Da schob sich ein vorsichtiges Lächeln in sein Gesicht und er nickte. „Mir ist jetzt auch nicht nach Rummel“, sagte er und folgte mir neugierig in die Wohnung. Kaum war er durch die Tür, da strafften sich seine Schultern und sein Gesicht wurde zu einer Maske. Zu gern hätte ich gewusst, was in ihm vorging in diesem Moment. Im Hause Kaufmann gab es nur echte Eiche rustikal, die hält ein Leben lang und lässt sich anschließend noch an die nächste Generation weiter vererben, so viel wusste ich, aber es hätte mich brennend interessiert, was er von unserer Wohnung hielt.
Auf einmal drehte er sich zu den Tigersesseln um, lächelte belustigt und sank hinein. Er schien sichtlich entspannt. Schweigend setzte ich mich ihm gegenüber, musterte sein Gesicht, und erneut fiel mir auf, wie wenig sich die Brüder ähnelten. Bernhard holte tief Luft, betrachtete die Bücherregale und den alten Sekretär und sah mich dann an.
„So hat er also gelebt.“ An die Stelle seines Lächelns trat ein Anflug von Spott und ich wusste nicht, was ich erwidern sollte.
„Möchtest du vielleicht was trinken?“, fragte ich schnell und sprang auf. Vor lauter Verwunderung hatte ich doch glatt meine guten Manieren vergessen.
„Hmm“, antwortete er unschlüssig und ich zählte ihm schnell die verschiedenen Getränke auf, die ich im Kühlschrank hatte. „Oder möchtest du lieber Whiskey oder so was?“
„Trank Harry Whiskey?“, fragte er interessiert zurück.
„Hin und wieder einen Bourbon mit Eis.“ Ich stand auf, um Flasche und Gläser zu holen, aber er wehrte ab.
„Nein, lass mal, ich möchte doch lieber etwas Alkoholfreies! Ich habe gleich noch einen Termin.“
Das war keine schlechte Vorstellung, die Kirche besetzt bis auf den letzten Platz und alle traurig und ehrfurchtsvoll ergriffen. Wir hatten gemeinsam für einen Mann, den ich nicht einmal kannte, gebetet und dem Pfarrer auf seinen Sprechgesang geantwortet, und auf einmal fühlte ich mich nicht mehr so allein in dieser neuen Stadt, und ich dachte, vielleicht sollte ich öfter mal zum lieben Gott beten, einfach so. Damals bei meiner Hochzeit machten sie auch so viel Aufhebens, aber gehalten hat es trotzdem nicht, resümierte ich traurig.
„Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld!“ Nur, wer war es wirklich? Natürlich gab es haufenweise blonde Frauen. Echte und falsche, und Männer hatten auch viele und ich hätte schwören können, dass ein Großteil sie heftig betrog.
Einen grünen Sportwagen sah ich nicht, rund um das Friedhofsgelände und am Grab fand ich eigentlich nur Frau Morgenroth so richtig überzeugend. Irgendwie tat sie mir leid. Sie dachte immer noch, er hätte es verdient, so betrauert zu werden. Ich hielt mich hinter den Büschen verborgen und knipste alles, was mir vor die Linse kam. So blieb mir zumindest noch eine Hoffnung.
„Fühlst du dich eigentlich wohl in dieser Wohnung?“, fragte Bernhard auf einmal und stellte sein Glas auf den kleinen Tisch neben seinem Sessel.
„Ja natürlich, wir haben sie zusammen eingerichtet!“
„Es sieht ein bisschen wie in einer Räuberhöhle aus“, sagte er und lächelte. War das nett gemeint?
„Findest du?“ Rasch schaute ich mich um, was sollte dieser Vergleich?
„Hat Harry eigentlich ein Testament gemacht?“
Ich schüttelte den Kopf, wir waren jung, und wenn man jung ist, dann sterben immer nur die anderen.
„Ich werde mich darum kümmern, dass du alles behalten kannst“, versprach er und richtete sich auf.
„Na ja, also das wäre wirklich nett“, versicherte ich ihm und fühlte mich dennoch unwohl dabei.
Am Himmel hatten sich die Schäfchenwolken vermehrt und die Sonne verdeckt, darum stand ich auf und schaltete sämtliche Lampen an. Von wegen Räuberhöhle. Fünfundzwanzig Birnchen erstrahlten, keine aufdringlich, jede bewusst platziert. Bernhard staunte nicht schlecht, stand ebenfalls auf und durchschritt die ganze Wohnung. Vor den Tigersesseln hielt er erneut inne. „Glaubst du, sie würden zu mir passen?“
Ich wollte sie ihm auf keinen Fall überlassen, aber sein spitzbübisches Lächeln verunsicherte mich. Bernhard lächelte nur selten so.
Vielleicht war es doch noch nicht zu spät für ihn, dachte ich, vielleicht wurde doch noch ein richtig sympathischer Mensch aus ihm, wenn der Wahlkampf erst einmal hinter ihm lag und er Landrat war.
Endlich schüttelte ich den Kopf. „Aber wenn du jemals Sehnsucht nach ihnen hast, dann komm doch einfach vorbei!“
Und dann kam vom Hof das Zeichen zum Aufbruch. Ich hätte ihn gern noch gefragt, ob das erforderlich sei, aber in dem Moment sagte er mit kalter, entschlossener Stimme: „Ich hoffe, das ist nicht nötig!“
Zuerst war Obermüller ziemlich ungehalten über meine Bitte. Er sagte, das wäre ja das dämlichste, was er je gehört habe. Eine ganze Trauergesellschaft zu checken. Aber dann ließ er sich doch locken. Frischen Cappuccino gab es nicht alle Tage und einen halben Kuchen hatte ich auch noch für ihn besorgt.
Einen Teil der Bilder konnte selbst ich zuordnen: die Nachbarinnen, den Bruder, seine Frau und die Mutter - die Ärmste. Obermüller stellte mir die wichtigsten Obrigkeiten vor und wunderte sich hin und wieder über das Partei übergreifende Interesse. Bei manchen Bildern musste er passen, nahm sie aber an sich und versprach, sich darum zu kümmern. Sicher rechnete er beim Abschluss seiner Recherchen mit einer ebenso freundlichen Bewirtung.
Nachdem ich also auf diese Art noch nicht weitergekommen war, machte ich einen Spaziergang, vorbei an der Neuen Bischöflichen Residenz, in der der Domschatz ruhte, und lief dann ziellos über den Vorplatz des Stephansdoms. Als ich das große Tor erreichte, blies mir ein heftiger Wind ins Gesicht. Schnell drehte ich um. Zum Abschluss des Tages wollte ich noch zu Bernhard Kaufmann. Mal sehen, was der gestresste Bruder zu unseren Ermittlungen zu sagen hatte.
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