„Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass Harry Beruhigungsmittel nahm? Harry war Sportler, für ihn gab es andere Möglichkeiten, sich zu beruhigen.“ Ich versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten.
„Das mag schon zutreffen, aber irgendwie scheint er doch nicht klargekommen zu sein. Laut Obduktionsbericht hat er mindestens zehn Tabletten genommen, haben Sie dafür auch eine harmlose Erklärung parat?“
„Nein, nein...“ O Gott - Obduktionsbericht! Mir wurde ganz schlecht. Er lag nicht mehr in seiner Zinkwanne, sie haben ihn aufgeschnitten, ihn auseinandergenommen, wie ein Stück Vieh, ich musste mich setzen. „... was haben Sie gesagt, wie viel hat er getrunken?“
„Mindestens zehn Tabletten Valium, aber ich habe nicht gesagt, er hat es getrunken!“ Sie sah mich an, und ich hatte das Gefühl, dass sie triumphierte.
„Wissen Sie denn jetzt wenigstens, wo er hin wollte? Sie haben sich doch sicher Gedanken darüber gemacht!“
Jetzt hat sie auch noch einen kleinen Altar aufgebaut, wie süß, mit Rose und einem Bild, so richtig zum Verlieben. Also, ein Hübscher war er ja schon, dieser Harry Kaufmann. Bei seinem Anblick wusste ich gleich, dass der keine Probleme hatte, sich eine Frau zu angeln.
Dass Frau Morgenroth das nicht verstand, war klar, sie war immer noch blind vor Liebe und Trauer. Also lag es an mir, sie mit den Tatsachen zu konfrontieren. Dann tat es wenigstens nur einmal weh!
Diazepam gab es nicht nur in Apotheken, sondern auch in Krankenhäusern. Im Auto saß eine blonde Frau, und ein aufgemotzter Sportwagen drängte sie beide von der Straße. Kaufmann war nicht angeschnallt und hatte die Hände nicht am Steuer. Das passte alles nicht zusammen.
Nachdem ich schon einmal im Haus war, klingelte ich bei Frau Nigl. Sie war Krankenschwester und kannte sich mit Medikamenten aus. Ich dachte mir, wenn ich ihr erzähle, was mit ihrem Nachbarn wirklich passiert ist, erinnert sie sich vielleicht besser an die blonde Frau.
Leider war sie nicht zu Hause, und Julia Fabriosa auch nicht. Ich verglich den Namen auf dem Schild mit meinen Notizen, er stimmte. Auf dem Weg in meine Pension nahm ich mir fest vor, weiter nach ihr zu forschen. Ich konnte es nicht offiziell tun, sie war keine Verdächtige. Trotzdem war es merkwürdig, dass es sie überhaupt nicht gab.
Donnerstag 22.8.
30. Szene
Klara
Um Frau Morgenroth zu provozieren, hatte ich sie gefragt, wo Harry Kaufmann an seinem letzten Tag hin wollte, das war natürlich falsch. Ich musste wissen, wo er herkam, wie er seinen Tag verbracht hatte. Bis zur Beerdigung hatte ich noch etwas Zeit, darum ging ich zu Obermüller. Ich traf ihn im Gang mit einem Ladendieb am Schlafittchen. Während wir nebeneinander herliefen, fragte ich nach den Gegenständen, die im Auto gefunden wurden.
„Muss das jetzt sein?“ Ich nickte. Der Junge war vielleicht dreizehn, klaute schon morgens vor der Schule. Er trug eine Jacke mit vielen Taschen und eine dieser übergroßen Hosen, bei denen ich immer den Verdacht hatte, es stecke noch eine Windel drin. Aus einer der Taschen führte ein Kabel direkt zu seinen Ohren. Kaum hatte er das Zimmer betreten, begann er im Takt zu wippen, nicht ansprechbar für alles um ihn herum. Bum, bum, bum machte es dumpf und laut, es war scheußlich.
„Hör mal“, sagte Obermüller und nahm mich zur Seite. Der Junge knatschte einen Kaugummi und blätterte völlig ungeniert in einer Akte herum. „Wir waren wirklich froh, dass du uns geholfen hast, aber heute ist die Beerdigung, der Wagen ist noch nicht gefunden, die Zeugin mit den blonden Haaren weiterhin verschwunden, und wir haben andere Sorgen!“ Er riss dem Jungen die Akte weg und drückte ihn auf einen Stuhl.
„Eben, also wo?“
Obermüller deutete auf ein Fach im Rollschrank und seufzte.
„Danke“, sagte ich freundlich. Soll er doch froh sein.
In meinem Zimmer packte ich alles aus, eine Brieftasche, ein Päckchen Kaugummi und einen Straßenatlas. Es half mir nicht weiter. Ich musste noch einmal zu Frau Morgenroth. Leider war die viel schlauer als mir lieb war. Mit dummen Menschen konnte man eine Weile spielen und sie so verwirren, dass sie am Ende alles zugaben. Aber die Morgenroth durchschaute mich. Ich sah auf die Uhr. Verdammt, jetzt musste ich mich aber beeilen.
„Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus“, rief der Pfarrer feierlich in den Raum. Ich saß in der zweiten Bank, zwischen Julia und Sylvia und konnte vor lauter Schmerz und Verzweiflung kaum atmen. Der Sarg war über und über mit Blumen geschmückt und vor der Tür stapelten sich die Kränze.
„Lamm Gottes!“, rief der Pfarrer und erhob seine Hände zum Himmel. Der schwarze Hut mit dem dezenten Schleier, den mir Jutta schließlich gebracht hatte, gab mir ein wenig Deckung; in meiner geräumigen Tasche häuften sich die verheulten Taschentücher.
„Heilige Maria Mutter Gottes, voll der Gnaden!“ Die Kaufmanns saßen in der ersten Reihe. Ich warf einen Blick auf Bernhard, der erstaunlich sicher seine Haltung bewahrte. Gelernt ist eben gelernt. Neben ihm saß lässig ein großer Mann in dunklem Anzug, weißem Hemd und durchgestuften, dunklen Haaren, der angestrengt seine Umgebung musterte und sich scheinbar nur widerwillig an dem ganzen Auf und Ab der Trauergemeinde beteiligte. Wahrscheinlich ein Bodyguard, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was Bernhard dazu veranlassen sollte, sich in Gefahr zu wägen.
„Wir sind heute hier zusammen gekommen, um...“ Und wenn schon, Harry hätten selbst zehn Bodyguards nicht helfen können.
„...viel zu früh wurde er aus unserer Mitte gerissen!“ Sylvia schluchzte auf, und ich drückte ihr schnell die Hand.
„Vater unser im Himmel!“ Sie registrierte es gar nicht.
„Dein Wille geschehe!“ Warum Harry, warum? Auf der Rückenlehne der Bank vor mir stand: Gott war hier! Wenn er hier war, wenn er Harry geleitet hat, warum hat er ihn dann nicht umgeleitet? Die Ministranten schwenkten das Weihrauchfass, und mir wurde schlecht. Ich hasse Weihrauch! Ich hasse Beerdigungen! Ich wollte Harry doch nur lieben, für immer und ewig! Seine Mutter war sehr still, ich konnte nicht ergründen, ob sie überhaupt bei der Sache war. Still betrachtete ich ihren Hut und die zierlichen goldenen Ohrringe. Plötzlich hielt mir Julia ein Opferkörbchen hin. Wir waren gerade zum Gebet aufgestanden. Verdutzt hielt ich es in der Hand und starrte hinein. Es lagen schon etliche Geldscheine drin. Vielleicht können wir ihn ja freikaufen, dachte ich und schaute auf die mitgelieferten Sterbebildchen. Es war ein Ausschnitt. Ich hatte das Bild nach einer erfolgreichen Jagd auf einen Oryx in der Savanne Namibias gemacht. Damals hatte Harry seinen Sieg errungen, den Sieg über einen fahlbraunen Oryxbock. Aus seinen Augen leuchtete Stolz, denn der Oryx galt als hartes, mutiges Wild, dass sich seinem Jäger auch mal entgegenstellte, um ihn auf seine langen Hörner zu nehmen. Aber Harry blieb der Sieger, damals, als er noch lebte. Doch jetzt war er tot. Krampfhaft hielt ich das Körbchen fest und starrte vor mich hin, bis Julia sanft meine Finger löste und es nach hinten weiterreichte. „Lamm Gottes, in Ewigkeit. Amen!“
Der Gang über den Friedhof glich einem Spießrutenlauf. Es war schrecklich heiß und nach der Kühle in der Kirche kaum zu ertragen. Überall standen Leute, die mich beobachteten. Mit letzter Kraft setzte ich Fuß vor Fuß. Warf einen roten Rosenstrauß auf den dunklen Sargdeckel und hielt für einen Moment stille Andacht für Harry. Als mir klar wurde, dass er von diesem Zeitpunkt an für immer aus meinem Leben verschwunden war, ohne eine Hoffnung auf Rückkehr, überkam mich eine solche Verzweiflung, dass ich nichts sehnlicher wünschte, als mich gleich zu ihm zu legen.
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