„Das heißt, Ihr werdet dafür bezahlt, uns zu befreien?“
Lori hielt sich die Hand vor den Mund, als sie feststellte, dass sie das gerade laut gesagt hatte.
„Nein. Ich werde nur bezahlt, ihn zu retten.“ Der Unbekannte zeigte auf Minister Ludwig. „Euch nehme ich gratis mit. Soll ich euch lieber zurücklassen?“
„Nein“, stieß Lori aus.
„Dann folgt mir. Leise. Und nennt mich Mischka.“
Die vier Gefangenen folgten ihrem Befreier. Lori war völlig verblüfft, dass Olivia bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte. Ihre Augen hingen wie festgewachsen an ihrem Befreier. Offenbar war ihr Selbsterhaltungstrieb doch stärker als ihr Mitteilungsbedürfnis.
„Verdammt“, fluchte Mischka. „Wir sind spät dran. Wir müssen vor der Wachübergabe am Südtor sein. Beeilt euch!“
Die Straßen waren leer. Zweimal sahen sie das Licht einer Fackel, aber immer mehrere Gassen entfernt. Ihr Befreier kannte die Routen der Patrouillen. Trotzdem trieb er sie unbarmherzig weiter an – auch als Sophia stürzte und sich das Bein aufschürfte. Max, der Koch, riss sie wieder hoch.
„Wir sind da. Bleibt hinter mir. Wir sind gleich raus.“
Mischka trat auf die Metalltür mit dem kleinen Fenster zu und klopfte. Zweimal kurz, einmal lang, zweimal kurz.
Die Klappe ging kurz auf, schloss sich wieder, danach öffnete sich die Tür.
„Schnell“, brummte eine tiefe Stimme. „Die Ablösung ist überfällig. Ihr müsst hier raus.“
„Aber klar doch“, entgegnete ihr Befreier und warf dem Mann einen Beutel zu. Es klimperte. Münzen. „Bis zum nächsten Mal, Olaf.“
Der Mann bedeutete den Gefangenen, durch das Tor zu gehen.
„Was ist da los?“, rief plötzlich eine Stimme. Jung, kraftvoll und selbstbewusst.
„Gar nichts, gar nichts“, erwiderte Torwächter Olaf. „Hier gibt es nichts zu sehen.“
„Unsinn“, rief der andere und zog sein Schwert aus der Scheide. „Lässt du wieder Schmuggler aus der Stadt? Ich habe dich gewarnt, dass ich kein Auge mehr zudrücken werde.“
„Ach komm schon, Garron. Das sind Freunde von mir. Du kannst doch dieses eine Mal darüber hinwegsehen, oder?“
„Ganz bestimmt nicht. Ihr werdet mich alle zur Hauptwache begleiten, und …“
Der Mann stutzte.
„Das sind keine Schmuggler. Das sind die kowarischen Gefangenen.“
Er blickte Olaf etwas verwirrt an. „Du bist also nicht nur käuflich, sondern auch ein Verräter.“
Seine Stimme wurde hart. „Übergib mir dein Schwert, dann werde ich dafür sorgen, dass du einen fairen Prozess bekommst.“
„Ich störe ja nur ungern“, mischte sich Mischka ein. „Aber wir haben keineswegs vor, mit euch zu kommen. Vergesst, was ihr hier gesehen habt, und ich werde euch dafür entlohnen.“
„Das hättet ihr wohl gerne.“ Garron lachte und machte einige Probeschwünge mit dem Schwert. „Ich werde euch töten. Die Gefangenen werden wie geplant aufgeknüpft, und der gute Olaf wird ihnen Gesellschaft leisten.“
„Das kann ich leider nicht zulassen.“ Auch ihr Befreier zog sein Schwert. Er bewegte sich nicht, sondern wartete darauf, dass der Wachmann näherkam.
Er tat ihm den Gefallen und drang mit seinem Anderthalbhänder auf ihn ein.
Lori zog scharf die Luft ein, als sie sah, mit welcher Wucht der Wachmann angriff.
Alles ging sehr schnell. Ihr Befreier blockte zwei der Hiebe ab, drehte sich unter einem dritten hindurch. Er bewegte sich elegant und tödlich, sein Schwert blitzte auf, und der Wachmann blickte ungläubig auf die Klinge, die in seiner Seite unter seiner Achsel steckte.
Mischka drehte die Klinge mit einem Ruck. Garron stöhnte, bäumte sich noch einmal auf und brach dann zusammen.
Dann drehte sich Mischka zu Olaf um und rammte ihm das Schwert ebenfalls in die Brust.
„Es tut mir leid. Ist nichts Persönliches. Aber Geschäft ist eben Geschäft.“
Er nahm den Beutel mit seiner Bezahlung wieder an sich und wandte sich an die anderen.
„Kommt jetzt“, rief er. Wir müssen hier endlich weg. Zum Fluss.“
Als sie außer Sichtweiter des Stadttors waren, dachte Lori, dass sie nun wirklich eine Chance hatten, zu entkommen.
Zumindest, bis sie den Hufschlag hörte, der sich von hinten näherte.
„Runter von der Straße“, rief Mischka und drängte die befreiten Gefangenen seitlich über die Böschung. Doch Lori wollte sehen, was passierte. Sie kauerte sich an die Kante und sah zu.
Es waren drei Reiter, die auf Mischka zukamen und offensichtlich kein Interesse daran hatten, die Flüchtigen lebend zu fangen, denn der erste der Reiter hielt mit vollem Tempo auf ihn zu und schwang sein Langschwert.
Mischka wich dem eher plumpen Schlag aus und führte stattdessen einen Hieb gegen die Beine des Pferdes, das wiehernd stürzte, sich überschlug und seinen Reiter unter sich begrub.
„Das war nicht sehr ritterlich.“
Die anderen beiden hatten ihre Pferde angehalten und stiegen gerade ab. Der Sprecher trug die Uniform eines Hauptmanns.
„Warum sollte ich ritterlich handeln?“ Mischka ging langsam auf die beiden zu.
„Weil ich nur zu gut weiß, wer Ihr seid. Was ich nicht verstehe, ist, warum Ihr das tut. Einfache Gefangene befreien. Korrupte Minister.“
„Für Geld natürlich. Auch ich muss leben.“
„Dann werde ich wohl einen Schlussstrich unter Eure Laufbahn setzten, Sir. Und da Ihr auf Ritterlichkeit verzichtet habt, werden wir das auch tun.“
Er bedeutete dem andern Soldaten, sich einige Schritte zu entfernen. „Wir nehmen ihn in die Zange. Auf meinen Befehl hin angreifen.“
Einige Augenblicke lang umkreisten die beiden Mischka, dann verlor der zweite Soldat die Fassung und schwang seinen Streitkolben mit beiden Armen.
Der Hauptmann brüllte vor Wut auf und drang mit seinem Schwert ebenfalls auf Mischka ein. Zu spät für seinen Untergebenen.
Mischka riss das Schwert gerade noch rechtzeitig aus der Brust des sterbenden Soldaten, um den Hieb des Hauptmanns abzublocken. Der Schlag prellte ihm jedoch das Schwert aus der Hand, das klappernd davonschlitterte. Mit einem Fluch rollte er sich ab, und der nächste Schlag ließ Funken aus dem Kopfsteinpflaster fliegen.
„Halt still und stirb wie ein Mann!“, brüllte der Hauptmann.
Lori griff in den Gürtel und zog den Dolch hervor, den ihr Mischka gegeben hatte.
Dieser rettete sich gerade mit einem verzweifelten Sprung von einem weiteren Angriff.
„Mischka, hier!“, rief Lori und warf dem Krieger die Waffe zu.
Ihr Wurf war schlecht gezielt, und der Dolch prallte eine Manneslänge neben ihm auf den Boden.
Doch der Aufprall lenkte den Hauptmann der Wache ab, der einen Moment aufsah. Zeit genug für Mischka, den Dolch aus der Scheide zu reißen und zu werfen.
Der Hauptmann erstarrte und drehte sich halb herum. Aus seinem linken Auge schien ein Horn gewachsen zu sein.
Dann brach er zusammen.
Mischka erhob sich, riss den Dolch aus dem Auge, wischte ihn an der Kleidung des Toten sauber und gab ihn Lori zurück.
„Danke. So war es einfacher.“
Dann holte er sich sein Schwert und übernahm wieder die Führung.
Als sich das Floß in Bewegung setzte, nahm Lori all ihren Mut zusammen.
„Ihr heißt nicht Mischka.“
Der Mann, der sich ihnen gegenüber als Mischka vorgestellt hatte, wandte sich ihr zu.
„Sondern? Wie heiße ich?“
„Ich denke, Euer wahre Name ist … Botharogas.“
Der Mann zuckte mit keiner Wimper.
„Und wenn dem so wäre?“
„Dann sind wir Euch zu großem Dank verpflichtet. Obwohl …“
„Was?“
„Obwohl ich mich dann schon fragen würde, warum ein Held, der dem Hochkönig von Rusonir auf den Thron verholfen, die Nord-West-Passage von Seedrachen befreit und dafür gesorgt hat, dass die Zwillingsprinzen ihre große Liebe heiraten durften, weitgehend unwichtige Gefangene aus einem winzigen Gefängnis befreit.“
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