»Naja, mal eben vier!«
Ich höre ein Kichern, ein gehauchtes »Lass das!«, dann ein zärtliches Schmatzen. Es erinnert mich an den Kuss meines Engels.
Ich setze mich erst einmal hin, muss meine Gedanken sammeln, mir über meine Absicht klarwerden. Will ich überhaupt hinaus? Was ist mir beschieden? Bleibt die Adventszeit geprägt von Hektik, Ärger über Schmuddelwetter und Vorweihnachtsstress? Oder bin ich in der Lage, den Menschen ihre Beschaulichkeit, ihre innere Ruhe und Ausgeglichenheit, ja Freude, zurückzubringen? Ich bin der Nikolaus, der Nikolaus, aber schaffe ich es? Und wenn ich bei meiner Familie, bei Karl und Schatz und den Strümpfen anfange?
Ich bohre unentschlossen weiter.
Irgendwann habe ich es erreicht. Alle Stege sind durchtrennt, die verbliebene Seite der Tür ist durchgehend von oben bis unten geschlossen, aber das Türblatt lässt sich aufbiegen. Ich lausche, zuerst in mich hinein, dann nach draußen.
Es ist still im Raum. Ich treffe die längst fällige Entscheidung und öffne die Tür.
***
Diese besinnliche Geschichte entstand in der Vorweihnachtszeit 2019 als Antwort auf die Ausschreibung des Schreiblustverlags »Ich traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür«.
Wie bei allen Schreibwettbewerben dieses Verlags war die Länge des Textes auf 10.000 Zeichen einschließlich Leerzeichen begrenzt.
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Boah ey! oder Münchhausens Schreckensfahrt
»Scharfe Sache! Was hast du dafür gelöhnt?«
»Ach, das willst du gar nicht wissen!«
»Komm, nun sag schon!«
»Gut zweimal dein Jahresgehalt.«
»Seit ich in die Teppichetage eingezogen bin oder vorher?«
»Seit. Und mit Prämie.«
»Boah ey!« Dieser Spruch, den Hans-Peter aus der Ära der Manta-Filme und Manta-Witze ins Erwachsenenalter herübergerettet hat, drückt alles aus. Anerkennung, ein bisschen Neid, aber noch mehr Freude für Heinz und eine Portion Stolz darauf, mit dem Besitzer dieses Boliden befreundet zu sein. Ein »Wir wär´s mit ´ner Probefahrt?« reißt ihn aus seinem kurzen Tagtraum.
»Klar, aber wie komm´ ich da rein und nachher wieder raus?»
»Der Schuhlöffel liegt im Fußraum. Und raus? Da gab es mal einen, der hat sich an den Haaren aus dem Sumpf gezogen, da wirst du das wohl aus ´nem Auto schaffen!«
Amüsiert über ihre eigenen platten Bemerkungen grinsen beide sich gegenseitig an.
»Wollen wir?«
»Klar, ich leg´ nur schnell noch mein Jackett in den Jaguar.«
Mit sonorem Schnurren rollt der italienische Sportwagen die breite Einfahrt vor dem Luxusbungalow hinunter und rauscht keine 10 Minuten später durch die scharfe Kurve des Zubringers auf die Autobahn. Heinz wirkt locker, Hans-Peter aber weiß, wie konzentriert er in Wirklichkeit ist. Zwar lässt der Verkehr hier noch kein Freilassen der unbändigen Pferdchen zu, aber die linke Spur muss einfach sein. Einige Kilometer später – eine Strecke, die die Geduld der beiden reichlich strapaziert – sind sie fast allein auf der Piste. Eine dritte Spur öffnet sich, die Geschwindigkeitsbeschränkung endet, der Motor hat seine Betriebstemperatur erreicht.
»Nu´ lass laufen! Freie Fahrt für freie Bürger!«
»Hast Recht! Solange die Regierung einen noch lässt.«
»Eben. Es kann nur schlimmer kommen.«
Das »Ach so« von Heinz klingt lässig, wird aber Lügen gestraft durch das ironische Lachen, das er nicht unterdrücken kann.
Hans-Peter ist neugierig, was das neue Spielzeug seines Freundes hergibt. Angst hat er nicht. Er ist hohe Geschwindigkeiten gewohnt, als Beifahrer genießt er das exponentielle Ansteigen der Adrenalinkurve. Nervenkitzel wie in der Achterbahn! In seinem Sitz versteift registriert er mit einem Seitenblick auf die traditionellen Rundinstrumente die zunehmende Geschwindigkeit.
»Gleich biegt sich die Tachonadel um den kleinen Stift da unten. Da, wo hinter der 320 die Zahlen aufhören.«
Heinz grinst, dreht das Gesicht seinem Freund zu.
»Noch nicht ganz, das kommt aber noch. Wozu habe ich denn ´nen Biturbo, Resonanzauspuff, zwei polierte Nockenwellen und ausgefräste Stirnräder? Übrigens alles eingetragen. Sch…« Ruckartig korrigiert er den Lenkradausschlag, um den Augenblick seiner Unaufmerksamkeit auszugleichen.
»Hape, kannst du bitte mal das Autoradio ausschalten? Es nervt. Die Lautstärke wird geschwindigkeitsabhängig hochgeregelt. Muss ich noch einstellen.«
Mit einem breiten Grinsen beugt sich Hans-Peter in seinem Sitz nach vorn und drückt die »Off«-Taste.
»So ein Armleuchter! Der sieht doch auch, dass der Laster da vorn überholt. Und hier fahr´ ich nicht mehr rechts ´rüber.«
Hans-Peter hört zu, dreht sich in dem Sportsitz so weit nach hinten, wie es geht, schaut durch das schmale Heckfenster.
»Porsche 997«, kommentiert er. Das Modell erkennt er an den ovalen, schräg liegenden Scheinwerfern, denen die markanten »Tränensäcke« seines Vorgängers fehlen. »Du, der Spoiler! Das muss ´was Besonderes sein. Der normale is´ das nich´.«
»Na und? Deswegen muss er mir nicht am Auspuff nuckeln.«
Die LKW sind überholt, Heinz weicht auf die rechte Spur aus, der Porsche beschleunigt, überholt und zieht vor ihm nach rechts, schneidet ihn.
Heinz fühlt sich provoziert. Das Manöver weckt seinen Jagdtrieb. Er greift das Lenkrad fester, spannt Arm- und Nackenmuskeln an, rutscht mit Rücken und Hinterteil hin- und her, bis er mit dem Schalensitz verschmilzt. Dann tritt er das Gaspedal durch.
Der Italiener macht einen Satz, presst nun auch Hans-Peter an die Rückenlehne. Der winzige Heckspoiler reckt sich ins Freie, der cw-Beiwert duckt sich. Der Motor fühlt sich wohl mit seiner neu gewonnenen Freiheit, endlich darf er zeigen, was in ihm steckt. Die Hufe von 500 Pferden hämmern auf den Asphalt. Das Dröhnen des Mittelmotors erstickt alle anderen Geräusche im Fahrgastraum.
Heinz und Hans-Peter erfasst der Geschwindigkeitsrausch. Der Porsche hat keine Chance, Heinz holt auf, setzt zum Überholen an.
Nur der Tatsache, dass Heinz sein neues Auto noch nicht richtig kennt, verdankt es der Porsche, dass er mithalten kann. Kilometer um Kilometer rasen beide Fahrzeuge nebeneinander her über die autofreie Piste. Fahrer und Beifahrer des 997 schauen nach links zum Italiener hinüber. Grinsend erwidert Hans-Peter ihren Blick.
Heinz hält seinen auf die Fahrbahn geheftet – hunderte Meter voraus. So erkennt er vor dem Porschefahrer das potenzielle Hindernis, einen Lastzug, der immer wieder auf die Mittelspur gerät. Heinz tritt das Gaspedal aufs Bodenblech.
»Nur weg von dem Porsche! Wenn wir an dem Lastwagen vorbei sind, hört das Spiel auf. Dann soll der Idiot machen, was er will.«
Der Porschepilot sieht den Ruck nach vorn, erkennt die Gefahr und hat den gleichen Gedanken: vor seinem Konkurrenten an dem LKW vorbei! Er beschleunigt, ist wieder gleichauf.
Seite an Seite preschen beide Sportwagen über die Autobahn. Der Lastzug ist erreicht. Einen halben Meter ragt er in den mittleren Fahrstreifen, in die Fahrspur des Porsche!
Der Fahrer bekommt Panik, weicht nach links aus, touchiert Heinz´ Italiener, prallt nach rechts ab. Zum Glück ist der Lastwagen nun hinter ihm. Aber sein Fahrzeug hat er nicht mehr im Griff. Der Porsche driftet über die rechte Spur auf den Standstreifen und schmirgelt funkensprühend an der Leitplanke entlang, bis er zum Stehen kommt.
»Hast du das gesehen? Das Arschloch hat mir den Außenspiegel abgefahren! Den Kerl krall´ ich mir.« Seine Stimme klingt eine Oktave zu hoch. Im Innenspiegel sieht Heinz, wie der Porsche an Tempo verliert. Er steuert nach rechts, sein Bremsmanöver reibt ein Viertelpfund Gummi in den Seitenstreifen.
Mit der sturen Beharrlichkeit eines Ozeandampfers zieht der Lastzug auf seinem Kurs an Heinz und Hans-Peter vorbei. Seine Hupe dröhnt wie ein Nebelhorn.
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