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Das Reihenhaus im Ahornweg strahlte den Charme der 60er Jahre aus. Mit acht Metern wies es eine deutlich größere Fassadenbreite auf als die heutzutage gebauten Reihenhäuser, von denen manche mit viereinhalb auskommen müssen.
Britta verschaffte sich einen ersten Eindruck, ließ ihren Blick an der Fassade entlang gleiten. Im Erdgeschoss wich neben der Küche – sie war sich der Nutzung dieses Vorbaus wegen des Lüftungsgitters in der Wand sicher – die Garage zurück, wodurch sich am Ende der mit sandfarbenen Verbundsteinen gepflasterten Einfahrt eine Art Loggia ergab.
Sie würde hier gleich Zuflucht nehmen vor dem Nieselregen, aber vorher wollte sie ihre Erkundung abschließen.
Der Hauseingang in dieser Loggia war wie auch alle Fenster neu. Weißer Kunststoff, Isolierglas. Über die ganze Hausbreite spannte sich das Wohnzimmer, wie Britta mit einem Blick auf das Nachbarhaus feststellte. Bei ‚ihrem‘ Haus war davor der Balkon auf dem Küchendach zum Wintergarten ausgebaut.
Sie drehte sich um, schaute die Straße hinunter. Auf der Hauptstraße könnte sie in jede der beiden Richtungen schnell verschwinden, wenn sie nach Beendigung ihres Jobs das Haus verlassen würde. Der Blick war nicht atemberaubend, aber der sanft ansteigende Hang hinter der Talsohle vermittelte trotz des schmuddeligen Herbstwetters mit seinem noch anhaltenden Grün ein Gefühl der Geborgenheit.
»Keine Weite, in der man sich verloren vorkommt«, überlegte Britta, »sondern ein Horizont, der einem Orientierung gibt.«
Mit ihren vierzehn Jahren hatte sie sich noch nicht selbst gefunden, ihr Leben noch nicht geplant. Ihr Äußeres erweckte zwar den Anschein einer eher dunklen Zukunft, aber das war nicht endgültig. Sie experimentierte noch.
Britta gab sich einen Ruck und schob ihr Fahrrad die Einfahrt hinauf und lehnte es an die Außenwand der Küche. Sie klingelte.
Das Kleid sah gut an ihr aus. Das knöchellange Schwarz ließ die Hausfrau schlanker erscheinen, als sie wohl war. Der natürliche Graustich, der sich mit der Brauntönung ihres Haares mischte, stand ihr gut, verlieh ihr aber ein übertrieben strenges Aussehen.
»Guten Abend, du bist wohl Britta? Komm rein!«
Britta schenkte ihrer Arbeitgeberin für diesen Abend ein Lächeln und streckte ihr die Hand hin. Sie fühlte sich gleich darauf ins Haus gezogen.
Ihr mit gesenktem Kopf vorgebrachtes »Guten Abend, Frau Häusler« kam zögerlich, klang schüchtern. Doch war es das auch? Britta hatte sich angewöhnt, zurückhaltend zu wirken, wenn sie sich davon einen Vorteil versprach. Sie hatte sich auch jetzt nicht verrechnet, Frau Häusler schien verunsichert. Brittas Lächeln und ihre gespielte Kindlichkeit kontrastierten mit ihrer Aufmachung.
Ihr kurzes, schwarzes Haar war durchzogen von blutroten Strähnen, sie hatte einen Lippenstift im gleichen Rot aufgetragen. Das stahlmatte Augenbrauenpiercing gab ihrem schmalen Gesicht einen düsteren Anschein, der durch die nietenbesetzte Lederjacke über dem Top verstärkt wurde. Ihre Jeans mit den aufgeschnittenen Knien und ihre Segeltuchschuhe setzten das Schwarz bis zum Boden fort. Einzig ihre viereckige Umhängetasche in beiger Leinenoptik stand der Erwartung entgegen, Britta sei zu einer schwarzen Messe unterwegs.
Ein verhaltener Pfiff durch die Zähne ließ sie herumfahren. Der Hausherr war aus der Küche in die kleine Diele getreten, betrachtete das Mädchen von oben bis unten mit unverhohlener Neugierde. Erst, als seine Frau ihn mit zusammengekniffenen Brauen anfunkelte, sah er Britta in die Augen und reichte ihr die Hand.
Die restlichen Minuten bis zur Abfahrt der Häuslers waren angefüllt mit der Vorstellung der Zwillinge und des Zweijährigen. Frau Häusler hatte auf dem ersten Treppenabsatz die Tür zum Zimmer der beiden schlafenden Säuglinge einen Spaltbreit geöffnet, streckte über Britta ihren Kopf ins Zimmer. Thomas, der Zweijährige, begleitete seine Mutter und Britta die zweite Treppe des Splitlevelhauses hinauf ins Wohnzimmer. Nach zwei, drei Stufen strahlte er seine Babysitterin von unten herauf an, legte seine Hand in ihre und hielt sie fest. Britta schluckte, als sie seinen seltsamen Gang bemerkte. Brauchte er sie als Stütze, ihre Hand als Gehhilfe? Er tat ihr Leid.
Im Wohnzimmer stand ein Reisekinderbett.
»Thomas schläft nur ein, wenn jemand bei ihm ist und wenn Licht brennt. Er hat verstanden, dass du heute auf ihn aufpasst, er hat den ganzen Nachmittag neugierig gewartet. Wenn du ihm eine Geschichte vorliest, ist er eingeschlafen, bevor du ans Ende kommst.«
Sie drückte Britta ein Märchenbuch in die Hand. Der papierne Einband zeigte in Braun- und Grautönen orientalische Motive.
Na prima, Hauffs Märchen! Davor hatte ich mich noch als Zehnjährige gefürchtet. Dunkel erinnerte sie sich. Das hier musste der erste der drei Bände sein, der düsterste.
Laut sagte sie: »Da werden Kindheitserinnerungen wach. Ich hab´ das früher selbst gelesen. Da war ich aber schon älter.« Sie lachte Frau Häusler an.
»Wir müssen los«, tönte es von unten. Herrn Häuslers Stimme vibrierte vor Ungeduld.
»Bin schon unten!«
Frau Häusler war aus dem Wohnzimmer getreten, hatte sich über das Treppengeländer gebeugt. Gleich darauf stand sie wieder vor Britta.
»Also, wenn dir die Limonade hier nicht reicht …« Ihre Hand zeigte auf den Teewagen mit der Flasche und dem Glas neben der vollen Gebäckschale. »… dann geh runter in die Küche. Im Kühlschrank ist mehr. Die Fläschchen der Kleinen stehen neben den Flaschenwärmern auf der Arbeitsplatte vorm Fenster. Wenn du die Zwerge wickeln musst, findest du alles im Wickeltisch in den Kinderzimmern.«
Britta fand, ihr Blick läge etwas zu lange auf ihr. Stand hier Misstrauen Pate? Oder doch nur Sorge?
»Meinst du, du kommst zurecht?«
»Na klar, Frau Häusler. Es ist ja nicht das erste Mal.«
»Ach, fast hätte ich es vergessen. Unten im Haus wohnt mein Vater. Aber dem wirst du kaum begegnen.«
Kurz bevor die Haustür ins Schloss fiel, verstand Britta noch ein paar Brocken aus dem Gespräch der Häuslers. Der letzte Satz gab ihr zu denken.
»Ich hab´ so ein ungutes Gefühl.«
Thomas hörte die Geschichte von der abgehauenen Hand ohne Gefühlsregung. Stumm lauschte er Brittas lebhafter Stimme, die dem in Konstantinopel geborenen Zaleukos neues Leben einhauchte, indem sie zu den ihm angedichteten Episoden einschließlich des ihm aufgezwungenen Mordes und der als Strafe folgenden Amputation stets den angemessenen Tonfall fand. Wie von Frau Häusler vorhergesagt, schlief er ein, bevor die Erzählung endete.
Britta las den finsteren Schluss der vielschichtigen Geschichte um Liebe, Untreue und Rache leise für sich. Das dauerte lange, immer wieder fielen ihr die Augen zu, immer wieder nickte sie ein.
Britta beugte sich zur Seite, zog den MP3-Player aus ihrer Umhängetasche, wickelte das Kabel der Ohrhörer ab und stopfte sich die weißen Silikonpolster in die Ohren. Als sie ersten Takte der Puppe von Rammstein hörte, erhob sie sich zu ihrem Erkundungszug durchs Haus.
Sie begann mit dem Bücherregal, das eine Schmalseite des Wohnzimmers füllte. Bram Stokers »Drakula« und Mary Shelleys »Frankenstein or The Modern Prometheus«, letzterer wohl in der englischen Originalfassung, ließen sie kalt, aber die scheinbar komplette Sammlung der Werke Stephen Kings begeisterte sie. Sie griff nach dem »Friedhof der Kuscheltiere«, ihrem Lieblingsroman, las wahllos drei, vier Absätze und schob das Buch zurück. Auf dem Regalbrett darunter suchte sie, ob sie mit den zahlreichen Anatomiebänden etwas anfangen könnte. Eine morbide Faszination ging besonders von den detaillierten Zeichnungen aus.
Die beiden Kinderzimmer – Thomas hatte seines neben dem Wohnzimmer – untersuchte sie nur kurz. Der Überblick diente der Orientierung, falls sie von hier später wirklich etwas benötigen sollte.
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