Nach ein paar Sekunden Schweigen sagte Nomi: „Er hatte gar keine andere Wahl. Sie wollten ihn nicht mehr bei sich haben, haben ihn weggejagt aus der Sippe. Da ist Mutter mit ihm gegangen.“
„Warum? Weil er keiner von ihnen war?“
„Nein, er hatte wohl irgendwas angestellt, gegen ihre Gesetze verstoßen. Ich weiß das nicht so genau.“
„Und ... und ist sie jetzt schon lange tot?“
„Drei Jahre oder ein bisschen mehr. Das ist lang, oder? Trotzdem: manchmal glaub ich, ich kann mich besser an sie erinnern und an die Zeit, wo sie noch da war, als an alles, was seither gewesen ist; und jeden Tag wünsch ich sie mir zurück, immer, immer!“
„Mein Vater ist schon ganz lange tot, da war ich nicht mal drei. Ich kann mich leider fast gar nicht erinnern.“ Er lächelte leicht bei dem Versuch, die vagen Bilder, die ihm geblieben waren, abzurufen. „Sehr groß muss er gewesen sein. Wenn er mich auf seinen Schultern hat reiten lassen, habe ich alles von ganz hoch oben betrachtet. Und bei uns auf der Kommode steht ein Foto von ihm, deshalb weiß ich, wie sein Gesicht war.“ Plötzlich lachte er: „Das würde sich doch prima ergänzen, denke ich grade: du und dein Vater und ich und meine Mutter - das wäre zusammen wieder eine komplette Familie.“
„Bloß nicht!“ Nomi wehrte erschrocken ab. „Das wünschst du deiner Mutter nicht!“ Sie biss sich auf die Lippen und sah zur Seite, wie wenn sie die Worte bereute, sobald sie gesagt waren.
„Na, war ja nur ein Scherz“, beschwichtigte er. „Ist er denn wirklich so schlimm, dein Vater?“
Nomi schwieg.
„Die Leute sagen furchtbare Sachen von ihm. Dass er dich ganz elend schlecht behandelt vor allem.“
Mit abgewandtem Gesicht und in einem leisen, gepressten Ton sagte Nomi nur: „Er ist mein Vater!“, und es war deutlich, dass sie zu dem Thema nichts weiter zu sagen wünschte. Das war indessen schon eloquent genug, und Johannes spürte eine Auflehnung, eine Empörung in sich aufsteigen, und leistete im Stillen einen hochherzigen, ritterlichen Schwur, er werde von jetzt an ihr Beschützer sein und nicht mehr zulassen, dass ihr von irgendjemandem, auch nicht von ihrem Vater, ein Leid geschehe. Wie er das anstellen wollte, hatte er freilich keine Ahnung.
„Trotzdem: dann wärst du ja meine Schwester. Und ... und das fänd ich richtig toll.“ Noch war er gerade Kind genug, um auf keinen anderen Gedanken zu kommen, wenn er auch undeutlich spürte, dass es nicht genau das traf, was er sich wünschte und was er empfand. „Ja, so einen Bruder könnt ich schon brauchen“, gab Nomi lachend zu.
„Sag mal“, fing sie wieder an, „was war das damals eigentlich für ein Spiel, als ich ganz neu hier war - da seid ihr alle, die ganzen Kinder aus der Straße, dort drüben an der Mauer gewesen und irgendwie alle übereinander geklettert, und Fritz ist dann doch runtergefallen, weißt du noch?“
„Oh je, und ob ich das noch weiß! Erinnere mich bloß nicht an diesen Tag!“ Und er erzählte ihr von seinem Missgeschick mit dem Buch.
„Herr Mäuthis scheint ja große Stücke auf dich zu halten, nicht? Na, du bist ja auch der Beste in der Klasse.“ Sie lachte auf: „Ich bin immer noch dabei zu überlegen, ob ich die Frage richtig verstanden habe, da hast du schon die Antwort. Es ist schon genau richtig, dass du demnächst auf die höhere Schule gehst.“
„Was?!? Woher hast du das denn schon?“
„Rudolph hat das vor ein paar Tagen herumposaunt, als wir alle auf dem Nachhauseweg waren. Das konnte man gar nicht nicht hören. Er hatte wohl an der Tür gelauscht, als Mäuthis mit dir drüber gesprochen hat. - Stimmt es denn nicht?“
„Na, jedenfalls ist es überhaupt nicht sicher. Morgen muss ich erst so eine Art Prüfung bestehen oder ein Vorstellungsgespräch bei jemandem, der solche Hilfen vergibt für Arme-Leute-Kinder. Ich weiß selbst nicht, wie das wird.“
„Wünschen tust du’s dir aber schon, oder?“
„Aber ich hab auch ordentlich Angst.“
„Klar hast du Angst. Aber es ist bestimmt genau das Richtige für dich. Und ich glaub fest daran, dass du’s schaffst. Bloß schade, dass du dann nicht mehr in der Klasse bist!“
Johannes wurde rot vor beschämtem Stolz.
„Du wolltest aber doch eigentlich wissen, was wir da vor der Mauer gemacht haben“, lenkte er schnell ab und erklärte ihr, welche Herausforderung die Mauer und das Geheimnis dessen, was sie abschirmte, für die gesamte Straßenjugend bedeutete. Er berichtete auch von den Diskussionen und Spekulationen über das Dahinter, das sich jeder dazu ausmalte.
„Und du?“, fragte er sie zum Schluss, „Was stellst du dir vor, was dahinter ist?“
„Och je, keine Ahnung!“, sagte sie grübelnd. „Jedenfalls, was da wirklich in Echt dahinter ist, hab ich überhaupt keine Idee. Kann ja alles sein, was Agnes und Rudolph und die anderen sich da überlegt haben. Aber wenn ich mir was wünschen dürfte, dann ... dann wäre das irgendwas zwischen dem, was Elsa und Fritz und, klar, auch Karl gesagt haben. Also, das wär’ schön, wenn man da seine Ruhe hätte und keine Sorgen, nicht ums Essen, nicht ums Frieren; wo keiner keinem was Schlimmes tut ...“ Es war anrührend zu sehen, wie sie beim Ausmalen, allein schon in der Vorstellung solchen Friedens richtig tief und erleichtert aufatmete. „Man würde endlich wissen, wo man hingehört und bleiben darf...“ Langsam kam ihr Blick wieder zurück aus dem Traumbild, und sie sah ihn an: „Aber du hast ja noch gar nicht erzählt, was du dir denkst!“
„Ja, das ist, weil ich’s eben auch selbst nicht weiß. Klar, so Sachen wie immer genug zu essen, das hätte schon was, und noch dazu, ohne dass Mutter sich so plagen müsste - ach, überhaupt: hast du vielleicht jetzt gerade Hunger?“ Er kramte in seiner Kitteltasche und holte einen Apfel hervor, an ein paar Stellen angestoßen und fleckig, aber bestimmt noch genießbar. „Den hab ich vorhin unterwegs gefunden - willst du?“
„Nein, danke, ist doch deiner!“, sagte Nomi, während ihre Augen hungrig angezogen wurden von der Frucht.
„Aber ich brauch ihn nicht, nimm doch!“
Schließlich einigten sie sich darauf, ihn sich zu teilen und bissen abwechselnd davon ab.
„Am liebsten hätt’ ich dort vielleicht einen Hafen“, fuhr Johannes fort, „einen richtigen meine ich, von wo aus man zum Meer und um die ganze Welt fahren könnte. Oder ein Platz, wo Luftschiffe starten. Bloß müsste man, um mitfahren zu können, natürlich erst mal wissen, wie man da hinkommt.“
„Schon komisch: du willst anscheinend am liebsten immer weg und unterwegs sein, und ich, ich bin schon so viel rumgekommen, wenn auch nicht gerade in der großen weiten Welt, dass ich einfach nur müde davon bin. Ich wär am liebsten wie die Rose hier, oder der Strauch, von dem sie kommt: die hat ihren Platz, da steht sie, den kennt sie, sie hat, was sie braucht, ihre Erde, Wasser, Sonne, da kriegt sie Blätter, verwelkt, wirft sie ab, kriegt wieder neue, da blüht sie, verblüht, kriegt vielleicht - was kriegen die noch mal für Früchte? - und braucht nach sonst nichts fragen.“
„Und ich ... ich finde, es gibt so viel, oder es muss so viel geben auf der Welt, was ich nicht weiß, nicht verstehe, nie gesehen habe, und wenn ich denke, ich müsste immer hier angewachsen bleiben wie deine Rose, da könnt ich fast verrückt werden. Am liebsten würde ich mit den Schwalben da -“, wieder einmal sauste so eine Schar dicht über der Wasserfläche vor ihnen vorbei, schoss in elastischem Schwung nach oben, tauchte hinauf, hinein in den goldblauen westlichen Himmel und verlor sich als eine Handvoll schwarzer hüpfender Punkte darin - „mitfliegen, auf und davon - wenn’s so leicht wäre!“
Nomis Augen spiegelten beim mitfühlenden Zuhören etwas von Johannes’ Enthusiasmus wider, und sie sagte lächelnd: „Am besten müsste man wohl beides haben, nicht?“
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