Auf die Gefahr hin, dem schrecklichen Herrn Beatritsch zu begegnen, beschloss er nach einer Weile zu schauen, ob Nomi vielleicht bei sich zuhause wäre. Er ging durch die Toreinfahrt bei Gulachs und durch den Hof nach hinten zu dem Schuppen, in den er gestern Abend Nomis Wäschekorb getragen hatte. Sie musste wohl da sein, denn die Tür stand offen, und vielleicht war sie sogar allein, denn Stimmen hörte man nicht. Er trat zum Eingang hin, den fröhlichen Gruß schon auf den Lippen, da stockten ihm Stimme, Herz und Atem in enttäuschtem Schrecken: die Hütte war leer, nichts mehr war darin zu erkennen davon, dass sie eben noch bewohnt gewesen war - kahler, kalter, festgestampfter grauer Boden, lediglich ein paar Holzsplitter und Fetzen lagen vor dem kleinen gusseisernen Ofen herum, der den einzigen festen, unverrückbaren Einrichtungsgegenstand der notdürftigen Behausung darstellte. Er war wie angewurzelt stehen geblieben und hatte in den winzigen Raum gestarrt, als könne er sich getäuscht haben und könnten die Matratzenlager, die wackligen Stühle, der windschiefe Tisch und der halbkaputte Truhenkorb, die er gestern noch hier gesehen hatte, doch plötzlich aus dem Dämmer wieder auftauchen.
Was mochte das bedeuten? - Natürlich wusste er das eigentlich ganz genau, erst gestern hatte Nomi ihm ja von den vielen Umzügen erzählt, die sie mit ihrem Vater schon hinter sich hatte. Er konnte, jedenfalls wollte, es aber einfach nicht glauben, dass sie so mir nichts, dir nichts verschwunden war, ohne sich auch nur zu verabschieden. Schließlich wandte er sich zum Gehen und traf in der Hofeinfahrt auf Karl, der ihn verwundert fragte, was er denn hier mache?
„Ich hab Nomi gesucht“, gab Johannes zur Antwort. „Weißt du, wo sie ist? Der Schuppen ist ja verlassen!“
„Bah, Nomi!“, erwiderte Karl mit verächtlich verzogener Miene. „Die und ihr sauberer Vater sind abgehauen. Heute Morgen hat meine Mutter sie gerade noch um die Ecke biegen sehen mit ihrem klapprigen Leiterwagen, vollgepackt mit ihren paar Lumpen und Möbeln, und die hätten sie uns eigentlich dalassen müssen, denn sie haben uns schon jede Menge Miete geschuldet!“
„Aber warum? Weißt du, warum sie so plötzlich weggegangen sind?“
„Na klar weiß ich das;“ Karl lachte gehässig auf. „Wenn sie das groß angekündigt hätten, hätte mein Vater sie sicher nicht ziehen lassen, ohne ihre Schulden zu bezahlen. Außerdem bin ich sicher, dass der Alte irgendwas verbrochen hat.“
„Dann weißt du natürlich auch nicht, wo sie jetzt ist...“
„Nee, und will ich auch gar nicht wissen. Wozu soll ich mich für das Gesindel interessieren? Mal abgesehen von der Miete, die wir sowieso nicht mehr gekriegt hätten, können wir nur froh sein, dass die weg sind. Aber du scheinst ja einen Narren gefressen zu haben an dem Lausepack!“
„Nomi ist kein Lausepack, lass dir das gesagt sein!“, herrschte Johannes ihn zornig an. „Der Vater vielleicht, aber sie...“ Er brach ab und ließ Karl grußlos stehen, merkte er doch, dass er die Enttäuschung in seiner Stimme nicht mehr länger kontrollieren konnte.
Er lief hinunter zum Kanal, zu seinem Baum und dann weiter zu dem Platz zwischen den Büschen am Ufer, wo sie gestern gesungen hatte, setzte sich, stützte den Kopf in die Hände und blickte starr auf die dunkelgrünen, hie und da von kleinen Sonnenblitzen aufgehellten trägen Wellen hinunter. Eine wilde, verzweifelte Trauer erfüllte ihn bis zum Bersten, ein unauflösbarer Widerspruch zwischen der Einsicht in die Unabänderlichkeit der Situation und der heftigen inneren Auflehnung dagegen.
Warum? warum nur war das jetzt so geschehen? Sie hatten sich doch gerade erst zaghaft angefreundet! Wie eine liebe, geliebte Schwester hätte sie sein sollen, und er ihr großer, beschützender Bruder - ach was, das drückte ja nicht mal zur Hälfte aus, was diese Freundschaft hätte sein können. Gerade, was dies nicht ausdrückte, der andere, viel umfassendere Teil - das Mysterium ihrer Person, das ihm dasselbe bedeutete wie das Geheimnis der Welt, des Lebens, zu dem sie ihm als das Portal, die rätselhafte Zugangslosung erschien; und dazu ihr seltenes, dafür so verzauberndes Lächeln, die fremdartige, zartgliedrige Hübschheit, die tiefe Sternennacht ihrer dunklen Augen, das eigentümlich Wilde, Einzelgängerische und zugleich Sanfte ihrer Persönlichkeit - sollte das gleich schon wieder verloren sein? Wie er sich danach sehnte, dass sie wieder neben ihm säße, dass sie zusammen den Abend hereinsinken sähen, vom unerträglich süßen Gesang der Amsel, der weichen Abendluft und der goldenen Abendsonne umfangen; dass er ihr von seinem heutigen Erfolg, von seinen Zweifeln erzählen könnte, dass sie ihm erneut Mut zuspräche. Was er heute erreicht, oder wofür ihm heute der Weg geebnet worden war, erschien ihm nun, ohne es mit ihr teilen zu können, an Bedeutung verloren zu haben, als hätte es seinen Glanz eingebüßt und die Freude darüber einen schmerzlichen Mitklang bekommen. Das war doch einfach nicht hinzunehmen! Eine rebellische Hoffnung stieg in ihm auf, er werde sie wiederfinden, und wenn er Viertel um Viertel der riesigen Stadt durchkämmen müsste! Gleichzeitig war ihm völlig klar, wie illusorisch dieser Vorsatz war, dass nichts als ein absolut unwahrscheinlicher Zufall ein Wiedersehen herbeiführen könnte. Am Ende war ja nicht einmal sicher, dass sie überhaupt noch in der Stadt war, es gab schließlich keinen Grund anzunehmen, dass sie nicht ganz weggezogen wären.
Er blieb lange, lange sitzen, nicht zuletzt in der verrückten Hoffnung, Nomi werde doch plötzlich noch auftauchen...
Als der innere Aufruhr in reine Niedergeschlagenheit ausgeklungen war, ging er endlich nach Hause. Jetzt fiel ihm auch ein, dass seine Mutter ja längst zurückgekehrt sein müsse und sich sicher schon Sorgen machte, warum er so lange ausblieb. Er sehnte sich nach der mütterlichen Liebe und Wärme, wenn er auch zum ersten Mal in seinem Leben vage spürte, dass der Trost, den sie ihm würde spenden können, nicht weit genug reichen werde.
Dass er deprimiert war und geweint hatte, sah man ihm so sehr an, dass die Mutter schon glaubte, das Vorstellungsgespräch sei nicht gut ausgegangen, und beim besten Willen nicht ganz verhindern konnte, dass sich ein Gefühl der Erleichterung in ihr Bedauern für den Sohn mischte. Es brauchte einen guten Teil des Abends unter dem tickenden Küchenwecker, bis die Mutter alles erfahren, was der Tag gebracht und alles verstanden hatte, was den Jungen bewegte.
„Groß wird er mir, der Hannes“, dachte sie betrübt, während sie ihn, doch immer noch wie die Mutter das Kind, den Arm um ihn gelegt, zu trösten suchte.
Mit offenen Augen starrte Johannes in die Dunkelheit der Schlafkammer, nach wie vor damit beschäftigt, den Kampf der gewünschten gegen die vorgefundene Wirklichkeit auszufechten und mit der Niederlage der ersteren zu hadern. Die Freude, die er sich für heute versprochen hatte und die ihm unmittelbar vereitelt worden war, malte er sich nun umso schöner aus und umso bitterer wurde ihm die Enttäuschung: Wie er, an das gestrige Gespräch anknüpfend, zu Nomi gegangen wäre, um ihr gleich zu erzählen, dass sie soweit recht behalten habe und ihm das Stipendium tatsächlich zugesprochen worden sei; wie sich darüber ihr Gesicht aufgehellt hätte; und dann hätte sie ihm sicher seine Versagensängste ausgeredet, und sie hätten zusammen sich ausgedacht, wie alles werden würde. Das unglaubliche Stück Marmorkuchen fiel ihm wieder ein, das er dort bekommen und extra für sie, gleichsam als Unterpfand und greifbares Beweisstück, aufgehoben hatte; er hatte sich so darauf gefreut, es ihr, der immer Hungrigen, zu schenken, sah vor sich, wie sie zunächst bescheiden abgelehnt hätte und dann aber, vielleicht mithilfe einer Notlüge seinerseits, er habe selbst schon so ein Stück essen dürfen, sich hätte überreden lassen. Wie er sie dazu gebracht hätte, ihm wieder so ein schönes Zigeunerlied vorzusingen...
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