„Vielleicht“. Er zuckte die Schultern und wollte den abgegessenen Apfelgriepsch mit großem Schwung ins Wasser werfen. Da hielt ihn Nomi zurück und bat: „Nicht, bitte, das wird immer so eklig, wenn das so lange im Wasser treibt, so glibberig und faulig. Lass ihn uns lieber hier vergraben.“ Sie war richtig blass geworden und sah zu seiner Verwunderung erschrockener aus als der Anlass rechtfertigte. Sie drehte sich halb um und strich die locker krümelnde Erde an einer grasfreien Stelle auseinander, bis eine Kuhle entstand, da legten sie das Gehäuse hinein und strichen die Erde wieder drüber. Dann nahm Johannes die schon sehr welke rote Blume, die Nomi abgelegt hatte, und steckte sie aufrecht dazu, wie ein Kreuz hinter einem Grab - er wusste selbst nicht, warum er das tat.
Sie lachten einander an und kehrten sich wieder dem Wasser zu, saßen still nebeneinander, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt.
Unterdessen hatte der späte Nachmittag fast unbemerkt schon große Schritte auf den Abend hin getan. Das Licht zog sich zusehends aus den tiefergelegenen Regionen zurück, die Gemäuer in der Nähe wurden grau und verschwammen ineinander; der eine oder andere Kahn, der jetzt noch unterwegs war, schob sich als dunkle, undeutliche Masse über die spiegelglatte, als einzig verbliebenes leuchtendes Band die fortschreitende Dämmerung durchziehende Wasserfläche; dahinter vereinigten die Büsche und Baumwipfel und die darüber hinausragenden Dächer und Türme des gegenüberliegenden Ufers sich immer mehr zu einer zusammenhängenden Scherenschnittsilhouette vor dem klaren Grün des Himmels, in das hinein sich aber mehr und mehr das stetig sich vertiefende Nachtblau aus der östlichen Sphäre vorschob, hie und da von spitzigen Lichtpunkten erster Sterne durchsetzt. Aus den schwärzer werdenden Schatten zwischen Gestrüpp und Gezweig hörte man Vögel schwätzen, plustern, schimpfen und kurz und schrill aufzwitschern, während sie sich an ihren Ruheplätzen für die Nacht einrichteten. Da erhob sich mit einem Mal, nicht weit entfernt, über dieses Grundgewebe aus Geräuschen das einsame Solo eines Amselgesangs: schluchzend, lockend, klagend, jubilierend, schlichte Melodien und virtuose Koloraturen aneinanderreihend, zwischen immer neuen Improvisationen regelmäßig zu dem einen Lieblingsrefrain zurückkehrend, die Töne in den tiefen, weichen Farben, der honiggoldenen, erdigen Süße dieser Abenddämmerung. Den Kindern stockte das Herz, und etwas wie ein heiliger Schauer überlief sie. Sie saßen und lauschten mit angehaltenem Atem, und dann, beide zugleich, wandten sie sich dem anderen zu und sahen sich an, sahen einander in die Augen mit einem völlig neuen, veränderten Blick, der an dem des anderen unausweichlich, magnetisch hängen blieb. Es war, als hielten die beiden Augenpaare sich gegenseitig fest, kämen auf keine Weise, auch wenn sie es wollten, von der wechselseitigen Umklammerung los, als sähen sie durch die weit und weich geöffneten, erstaunten Augen des anderen in sein Inneres hinein und fänden dort erst eigentlich sich selbst, wo sie den anderen erkannten. Eine Ewigkeit schien dieser Moment für sie zu umspannen, ein Moment ohne Anfang und Ende in diesem Blick in das fremde, nahe Gesicht, aus allem Zeitgefüge und Alltagszusammenhang für immer herausgehoben, gebannt und in der Schwebe gehalten durch das Lied der Amsel, die ihren Abendgesang für alle Zeiten in die Unendlichkeit des sterndurchwirkten dunkelnden Himmels hinein fortspann.
Erst, als die Amsel unvermittelt zu singen aufhörte, sich mit einem schrillen, hohen Auflachen von ihrem exponierten Platz irgendwo auf einer Dachkante oder einer Schornsteinecke abstieß und davon flatterte in die allmählich sich schließende Nacht hinein, um nun auch selbst ihren Schlafplatz aufzusuchen, konnten sie den Zauber abschütteln, und sahen verwirrt, scheu und mit gesenkten Augen weg.
„Wie spät es schon ist!“ - „Ich glaub, ich muss nach Hause!“, fingen sie gleichzeitig an.
Nomi erhob sich und griff nach dem Wäschekorb.
„Ich muss das hier noch aufhängen“, meinte sie.
„Und ich hab noch keine Hausaufgaben gemacht“, sagte Johannes. „Aber komm, lass mich das für dich tragen“, und er nahm ihr den Korb aus den Händen. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann fragte er: „Willst du nicht noch mit zu uns kommen? Du könntest mit uns essen, und dann machen wir die Aufgaben zusammen?“
„Das wäre wirklich schön. Aber heute ist es schon zu spät; ein andermal gern, vielleicht morgen.“
Als sie sich ihrer Behausung näherten, blieb er kurz stehen und fragte, ob ihr Vater jetzt daheim wäre. Trotz seines großherzigen Ritterschwurs von vorhin hörte er doch mit Erleichterung, dass sie ihn, wenn überhaupt, erst sehr viel später zurückerwartete. Er brachte ihr die Wäsche noch bis in die Hütte, und dann verabschiedeten sich die beiden mit einer ganz neuen Befangenheit voneinander.
Beim Abendessen war Johannes sehr abwesend und gedankenverloren, so dass die Mutter gar kein Gespräch mehr über die anstehenden Ereignisse in Gang bringen konnte, und bei den Hausaufgaben blickte er immer wieder verträumt von seinem Heft auf, so dass es richtig spät wurde, bis er sich endlich schlafen legte.
Was er geträumt hatte, das nahm das Dunkel dieser Nacht mit sich fort in die versteckten Winkel, in die es sich vor dem neuen Tag aus Stadt und Kammer und aus seinen sich öffnenden Augen zurückzog. Lediglich eines bisher nicht gekannten erfüllenden und süß beglückenden Gefühls war er sich halb bewusst. Warum er gerade heute mit so besondererer Vorfreude an die Schule dachte, konnte er sich gar nicht erklären, bis er sich, während er seine Morgensuppe löffelte, mit einem hellen Schrecken daran erinnerte, dass er dort ja Nomi wiedersehen würde. Vielleicht könnte er in der Pause mit ihr reden, oder könnte es so einrichten, dass sie gemeinsam nachhause gingen. Ganz sicher würde er gleich zu ihr gehen, wenn er von seinem entscheidenden Gespräch am Nachmittag zurück wäre, und ihr berichten, wie es ausgegangen wäre. Ob er sie wohl dazu würde überreden können, ihm wieder etwas vorzusingen?
Bis Herr Mäuthis das Klassenzimmer betrat und den Unterricht begann, war Nomi noch nicht eingetroffen. Dass sie sich aber auch gerade heute verspäten musste! Ungläubig behielt Johannes die Tür im Auge, in der festen Erwartung, sie werde sich jederzeit noch einmal öffnen und Nomi abgehetzt, atemlos und scheu um Entschuldigung bittend zu ihrem Platz huschen. Doch nichts dergleichen geschah, und, auf eine ganz neue, tiefe Art enttäuscht und ernüchtert, so viel bedeutete ihm der Zauber der gestrigen Begegnung und der Wunsch nach dessen Fortsetzung, gab er sich schließlich Mühe, dem Unterricht seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Zwischen der Suche nach möglichen Erklärungen für Nomis Ausbleiben - sie konnte doch in den wenigen Stunden nicht so krank geworden sein? Es war ihr doch wohl nichts zugestoßen? Der Vater hatte ihr doch hoffentlich nicht für einmal so zugesetzt, dass sie nicht aus dem Haus gehen konnte? - und dem Lampenfieber angesichts dessen, was ihm am Nachmittag bevorstand, wurde es ihm jedoch schwer, mehr als nur Bruchstücke des behandelten Stoffes aufzuschnappen.
Auch Karl wusste nicht, als er den in der Pause so beiläufig wie möglich danach fragte, warum Nomi heute nicht in der Schule war. Am Ende beruhigte er sich mit dem Gedanken, es werde bestimmt eine ganz harmlose Erklärung geben, wahrscheinlich habe der Vater sie nicht gehen lassen, weil sie irgendetwas für ihn erledigen sollte, oder vielleicht er selbst krank war und gepflegt werden wollte. Jedenfalls würde er sie später aufsuchen, und dann würde er ja erfahren, was los gewesen war.
Als er sich irgendwann am Nachmittag auf dem Weg zurück nachhause fand - gerade hatte er sich an der letzten Straßenecke von Herrn Mäuthis verabschiedet - war es ihm, als wäre er wie die Figur aus dem Märchen vor Stunden in einen Fluss getaucht, hätte ihn unter Wasser durchschwommen, dabei aber ein ganzes Zeitalter in diesem von den am fremden Element sich brechenden Sonnenstrahlen fremd beleuchteten Reich dort unten verbracht und wäre nun erst, mit neuem, verwandeltem Blick auf seine alte Welt, am anderen Ufer wieder aufgetaucht. Gewandelt hatte sich die Färbung seiner Zukunft, die sich ihm bisher recht genau absehbar präsentiert hatte, jetzt, unter jenem Licht der vergangenen Stunden, jedoch ganz neu, hoffnungsvoll, dabei aber auch beunruhigend vor ihm lag. Mitgebracht von „dort unten“ hatte er die Zusage, er solle das Stipendium bekommen und also nach den großen Ferien auf ein Gymnasium gehen.
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