Während sich Strophe um Strophe des langen Lieds der Kehle des schmächtigen und anscheinend doch so starken Mädchens entwand, in Ausdruck und Gesangsweise keine einzige der anderen gleich sondern jede offenbar ihrem je unterschiedlichen Inhalt angepasst vorgetragen, hörte er aufmerksam zu, vollständig gefangen genommen und alles andere vergessend. Er hatte ja nicht gewusst, dass es so etwas gab! Was er bisher an Musik gekannt hatte, waren ein paar Gassenhauer, ein paar Schlager, die gerade in Mode waren, Militärgeschmetter von den Festtagsparaden, Jahrmarktsgedudel und solche Tanzmusik, wie sie auf dem Maskenball erklungen war. Das eine oder andere hatte ihm gut gefallen, dann hatte er es vor sich hin gepfiffen, wenn er froher Stimmung war, manches konnte auch mal eine schlechte Laune aufheitern. Aber nun hatte er den Eindruck, er habe bisher nicht im Entferntesten gewusst, was Musik eigentlich sein konnte. Eine tiefe Ergriffenheit bemächtigte sich seiner und die Ahnung eines Reichtums, den die Welt, den das Leben, verheißungsvoll, noch bereithalten mochte.
Als das Lied zu Ende war, blieben die beiden lange stumm nebeneinander sitzen, ohne sich auch nur anzusehen. Nach einer Weile brach Johannes den Bann, indem er ein heiseres „Danke!“ brummte. Wie beeindruckt, wie ergriffen er wirklich war, hätte er nicht auszudrücken vermocht.
„Gern gescheh’n!“ erwiderte Nomi ebenso leise. Dann fügte sie hinzu und sah dabei endlich zu ihm herüber: „Hab das lange nicht mehr richtig und ganz, von Anfang bis Ende, gesungen.“
„Aber sag mal, was für eine Sprache war das denn?“
„Die Sprache meiner Mutter“, war die Antwort.
„Wieso? War deine Mutter gar keine Deutsche? - Wer bist du, Nomi? Woher kommst du wirklich?“
„Nein, das stimmt schon alles: Ich komme von hier, bin Deutsche, wie mein Vater. Nur meine Mutter war eine Roma, eine Zigeunerin, wie man sie so nennt.“
Johannes war sprachlos. Also war doch etwas dran gewesen an den Gerüchten und die fremdartige Aura keine Einbildung.
„Na so was!“ brachte er nur hervor. „Warum hast du das denn aber damals in der Schule nicht zugegeben? Ist doch nichts dabei - im Gegenteil: das ist doch riesig spannend!“
Nomi lächelte, fast ein wenig spöttisch. „Nein, danke, ich hatte keine Lust auf das Geschrei und die Beschimpfungen. Außerdem: niemand hat mich nach meiner Mutter gefragt, nur danach, was ich bin. Und ich bin nun mal, was mein Vater ist“, und man konnte einen Ton von Bitternis nicht überhören.
„Also, dann bist du doch nicht im Pferdewagen umhergezogen, oder? Schade eigentlich. Aber erzähl doch mal!“ bettelte er.
Jetzt lachte Nomi wirklich. „Nein, ich glaube nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich dort noch geboren bin.“
Wieder verstummte sie. Dann fügte sie hinzu: „Du musst mir versprechen, dass du niemandem, hörst du, niemandem etwas davon weitererzählst!“
„Aber warum ist das denn so ein Geheimnis? Ich wär doch stolz darauf, wenn meine Eltern irgend so was Besonderes, Ausgefallenes wären. Ich meine, nicht dass ich die umtauschen wollte, aber wenn sie, so wie sie sind oder waren, was anderes als eben ... einfach so ganz normal wie alle wären, dann wär ich da irgendwie stolz drauf!“
„Aber ich bin ja doch stolz!“ sagte Nomi heftig. „Das ist es ja gerade!“
Und als er sie verwirrt und fragend ansah: „Du verstehst das nicht. Meine Mutter und alles, was zu ihr gehört, ist das Größte, Beste, was ich habe, heilig, sozusagen. Und wenn ich drüber spräche, würde ich nur Spott und Hohn und dumme Beleidigungen hören.“
„Aber doch nicht von mir!“
„Weiß ich doch. Deshalb erzähl ich es dir ja auch. Aber du kriegst doch selbst mit, wie die meisten anderen reden und tuscheln und feixen. Das ist immer und überall dasselbe. Solange sie sich nur über mich lustig machen, ist mir das gleich. Ich bin ja nun mal eben keine Zigeunerin“, wiederholte sie trotzig. „Aber ... aber meine Mutter, die ... die werfe ich denen nicht vor die Füße!“ Sie hatte Tränen in den Augen, als sie nun wieder nach draußen auf den Kanal schaute.
„Hast du denn schon an vielen Orten gewohnt, bevor ihr hierher gezogen seid?“
„Ach, unzählige, keine Ahnung wie viele!“
„Und überall waren sie so ... so hässlich zu dir? So wie Rudolph zum Beispiel?“
Sie nickte. „Du siehst, ich bin längst dran gewöhnt.“
„Aber etwas verstehe ich nicht: Warum hast du denn eigentlich neulich dem Rudolph aus der Patsche geholfen? Du weißt schon, als du die beiden Kerle in die falsche Richtung geschickt hast, damit er ihnen entwischt? Das wollte ich schon lange fragen.“
„Ach das. Hatte ich schon ganz vergessen. Woher weißt du denn davon?“
„Ich war zufällig in der Nähe und hab alles gesehen. Da hast du doch glatt den gerettet, sozusagen, der dich am meisten und schlimmsten piesackt. Warum bloß?“
Nomi sah kurz zur Seite, zuckte dann mit der Achsel und fragte zurück: „Und du? Was hättest du denn gemacht? Hättest du ihn etwa verraten?“
„Hmmm. Nein“, antwortete Johannes. „Aber das ist doch auch was anderes. Wir sind ja sozusagen Freunde. Das kann man von dir und ihm ja wirklich nicht behaupten. Er ist schließlich dein größter Feind hier, und da hättest du die Gelegenheit gehabt, es ihm heimzuzahlen.“
„Ach Gott, Feind... Na ja, Mühe gibt er sich ja...“, sagte sie lächelnd und zuckte wieder die Schultern: „...keine Ahnung - ich weiß auch nicht. Die hätten doch kein heiles Haar an ihm gelassen!“
Im Grunde brauchte er auch gar keine Erklärung mehr dafür, es war mit einem Mal überhaupt nicht mehr so unbegreiflich, und er wechselte das Thema: „Wovon handelt denn dein Lied nun eigentlich?“
„Na, wovon solche Lieder eben handeln: von der Liebe, von zweien, die sich suchen und nicht finden, von Herzweh, und so weiter. Mutter hat es mir beigebracht.“
„Dann kannst du also diese Sprache richtig sprechen?“
„Ja. Wenn wir allein waren, hat sie oft so mit mir gesprochen.“ Noch jede Menge schöner Lieder habe sie sie gelehrt, bunte, märchenhafte Geschichten erzählt und die Lehren, Werte, Regeln und Gesetze ihres Volkes erklärt, habe ihr berichtet, wie es früher, vor ihrer Heirat, gewesen war. Nomis Leben, so hart es auch damals schon sein mochte, war gut und rund und richtig gewesen, solange die Mutter noch dagewesen war; die Quelle alles dessen, was dem Mädchen Halt und Kraft gab, all ihrer Lebenswärme und undemonstrativen frühreifen Weisheit war diese Mutter, diese enge Mutter-Tochter-Liebe und die unausgesprochen hochgehaltene und hartnäckig verteidigte Treue zu ihr, das wurde aus allem, was und wie sie davon erzählte, spürbar.
„Aber warum seid ihr denn eigentlich nicht bei ihren Leuten geblieben?“ wollte Johannes wissen, dem es um die Pferdewagen wirklich leid war.
„Na, wegen meinem Vater.“
„Also, an seiner Stelle wäre ich lieber mit denen rumgezogen als meine Frau ins normale Leben wegzuholen!“
Er blickte den Wasserlauf entlang, auf dessen kleinen Wellen die Lichtreflexe der spätnachmittäglichen Sonne tanzten. Zwischen dem Ufergebüsch der nächsten Biegung glitt ein langgestrecktes, flaches Boot gemächlich aus dem Gesichtsfeld. Darüber schossen jauchzend und kreischend wilde Banden von Mauerseglern hin und her und warfen sich ausgelassen, tollkühn und vertrauensselig in das nach Westen zu wie durch hauchdünn ausgeschlagenes feinstes Gold hindurch immer gläsern-grünlicher, immer lichter, immer ätherischer durchscheinende Himmelsblau hinein. Von dorther hatte die sinkende Sonne in diesem Augenblick einen freien Durchlass gefunden geradewegs aus den Weiten des Himmels zwischen allen Hindernissen aus Gebirgen, Häusern, Bäumen hindurch, so dass das rötlich-gelbe Licht sich in Nomis schwarzem Haarschopf fing und ein überirdischer Strahlenkranz sie zu umgeben schien.
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