Julia hatte mit sich selbst genug zu tun, hatte ihn aus ihren Gedanken und aus ihrem Blick verloren. Seine rettende Hand hätte sie mit Leichtigkeit ergreifen können, hätte sie sie nur bemerkt!
»Julia!«
Er rief sie, schrie sie an, bis sie endlich reagierte. Anstatt weiterhin zu versuchen, ihre Finger zwischen Hals und Schlaufe zu zwängen und sich Luft zu verschaffen, reckte sie in einer letzten Anstrengung ihre Hand nach oben. Dann schwanden ihre Sinne.
Er hatte ihr schlaffes Handgelenk fest im Griff. Er zog sie so weit zu sich, dass er die Schlinge um ihren Hals lockern konnte. Instinktiv nahm ihr regloser Körper die Atmung wieder auf.
Unwillkürlich versteifte sich Mike. Er fühlte die Rinde abblättern und seinen Fuß aus der Kerbe rutschen. Ein letztes Ziehen, eine letzte Drehung, und er hatte Julias Hals endgültig befreit. Er senkte sie so weit hinab, wie er greifen konnte, dann ließ er los. Mit einem kurzen Ruck endete ihr Fall, sie kippte in eine Schräglage und pendelte anderthalb Armlängen außerhalb seiner Reichweite. Er warf sich auf die Knie, war jetzt selbst außer Gefahr. Sein Atem ging schwer. Die Anstrengung hatte ihren Tribut gefordert, und sie war noch nicht vorbei. Er atmete tief durch, dann rappelte er sich halb auf und kroch so weit vor, bis er genau vor Julias straff gespanntem Sicherungsseil hockte. Er griff das Seil, prüfte das Gewicht und stand auf. Vornüber gebeugt, den rechten Fuß nach vorn gestemmt, zog er Hand über Hand die Sicherungsleine ein. Als er endlich den Widerstand von Julias schlaffem Körper an der Unterseite des Astes spürte, kniete er sich wieder hin. Er bemühte sich, sie so um die Rundung zu ziehen, dass ihr Gesicht nicht am Holz schabte.
Nach Ewigkeiten lag sie in der Astkuhle. Er vergewisserte sich, dass ihr Puls und ihre Atmung wieder kräftiger wurden, dann ging er zu seinem Tornister und band den Schlauch mit dem Apfelwein ab. Er stellte die Füße schulterbreit auseinander, lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und setzte den Schlauch an den Mund. Er gönnte sich einen tiefen Zug. Sein Zittern erstarb. Beruhigt sah er zu Julia hinunter.
Entsetzt schlug sie die Augen auf. Ihren Schrei unterdrückte sie gerade noch. Tröstlich wurde ihr bewusst, dass Sturz und Erstickungstod der Geschichte angehörten. Vorsichtig stemmte sie ihren Oberkörper hoch, bis er auf ihren aufgestützten Ellbogen ruhte. Mit Tränen in den Augen sah sie Mike lange an.
Er hatte sich in die Astkuhle gesetzt, den Rücken an den Stamm gelehnt. Julia saß ausgestreckt zwischen seinen Beinen, Kopf und Rücken fest an seine Brust gedrückt. Sein Streicheln fing an, sie zu entspannen. Sie hatten die Blicke auf die Ebene vor dem Wald gerichtet, nahmen ihre Umgebung aber gar nicht wahr. Beide mussten das Erlebnis verarbeiten. Eine Ewigkeit lang sprachen sie kein Wort.
Was passiert mir noch alles mit ihm? Schon wieder hat er mich gerettet. Ohne ihn wäre ich zu Tode gestürzt oder hätte mich erhängt. Aber ohne ihn wäre ich nie auf den Baum geklettert.
Julia schüttelte sich, das Unglück zog noch einmal vor ihrem geistigen Auge vorüber. Dann sprangen ihre Gedanken weiter zurück.
Was habe ich von ihm? Bringt er mich wirklich zum magischen Tor, meinem einzigen Weg nach Hause? Und was will er von mir? Er ist fürsorglich, aber er fordert viel. Der Mittag am Teich war prickelnd, viel zu lange hatte ich keinen Mann mehr gehabt. Er sieht gut aus, er war feinfühlig, behutsam und schließlich impulsiv. Trotzdem will er mich loswerden. Ich verstehe, dass Sex kein Grund für eine Bindung auf Gedeih und Verderb ist. Und sein Geheimnis! Warum hat er so wenig Vertrauen zu mir? Wie kann ich mich dann auf ihn verlassen? So schön es auch mit ihm sein mag, heimzukommen ist mir noch wichtiger.
Trotz ihrer Zweifel zog sie seinen Arm fester um ihre Brust.
Seine Schulter schmerzte. Mike drehte sich ein wenig, um den Druck auf die andere Seite zu verlagern. Julia schaute schräg zu ihm auf. In ihrem Blick lagen Fragen, die er nicht deuten konnte. Er schüttelte den Kopf.
Ist wirklich alles gutgegangen? Wie würdest du dich fühlen, wenn sie umgekommen wäre? Wäre es bloß ein verpfuschter Auftrag wie vor vier Wochen, als du nicht ahnen konntest, dass der Mörder deines Auftraggebers in seinem eigenen Gefolge lauerte, oder ginge es dir nahe? Schließlich hat sie ein hübsches Gesicht und einen perfekten Körper. Das Vorspiel hätte länger dauern können, aber uns beiden hat das Abenteuer Spaß gemacht. Mir viel mehr als die Spielereien mit den Mägden und auch den Bürgersfrauen aus der Stadt! Julia ist feiner, sauber, sie achtet auf sich. Sie hat einfach Stil.
Ein seltsames Gefühl durchzuckte ihn. Da war er wieder, der innere Konflikt! Dieses Hin- und Hergerissensein zwischen der Sehnsucht nach einem Heim, nach Ruhe und Geborgenheit auf der einen und der selbstgewählten Aufgabe auf der anderen Seite. Einer Mission, von der er nicht wusste, ob er sie erfüllen konnte und ob er sie überleben würde. Beim Gedanken an Julia schmunzelte er unwillkürlich.
Seltsam, wie der Umgang mit ihr meine Art zu sprechen und zu denken ändert. Tatsächlich bin ich in meine alte Sprache zurückgefallen. Keine der hier üblichen Formulierungen mehr! Julia verbindet mich sehr mit unserer alten Welt. Auch vom Alter her passen wir zusammen.
Er seufzte, als er sich ein harmonisches Zusammensein vorstellte, das nicht sein durfte.
Werde ich sie wiedersehen, wenn ich sie in Königstein absetze und irgendwann zurückkommen sollte? Wird sie auf mich warten oder ist sie auf und davon?
Sicher war er sich nicht, ob er auf diese Frage überhaupt eine Antwort wollte.
Viel später lag das Essen zu ihren Füßen ausgebreitet. Das Brot wurde langsam trocken, das Kauen dauerte länger als am Mittag. Braten und Käse hatten sie noch reichlich, vom Apfelwein war noch genug übrig. Sie schafften es, ihre Erinnerung an den Sturz zu verdrängen und ihre Mahlzeit zu genießen. Das Abendessen mutete wie ein Picknick an. Von ihrer Höhe aus war der Blick auf den Sonnenuntergang atemberaubend. Die Zinnen der Abendberge zogen sich am Horizont gegen das Licht hin wie die Mauer am Wehrgang einer Ritterburg.
Sie unterhielten sich gedämpft, obwohl sie von ihrem Hochsitz aus jede Annäherung schon von weitem bemerken würden und obwohl Mike behauptete, er könne Böses schon auf achtzig Schritt sehen . Das war eine Entfernung, auf die man sie nicht entdecken konnte. Hier oben fühlten sie sich sicher.
Morgen würden sie Königstein erreichen. Dort würde sich einiges für sie ändern, meinte er. Er fände einen Weg weiter nach Süden, sie würde in der Stadt bleiben, für sie die beste Lösung. Julia behielt ihre Meinung für sich.
Ihre Vorsichtsmaßnahmen bescherten ihnen einen nur kurz währenden ruhigen Schlaf. Sie hatten es sich in den Mulden ihrer Äste bequem gemacht. Julia war angebunden geblieben, Mike hatte auf eine Sicherung verzichtet. Er war diese Form der Übernachtung gewohnt, er wäre nie aus einer Kuhle wie dieser heraus gerollt.
Etwas Hartes bohrte sich in Julias Rücken, als sie sich ein Stück weit auf die Seite rollte. Im Nu saß sie senkrecht, war hellwach. Sie wollte sich umdrehen, wollte den Angreifer erkennen, aber sie wurde festgehalten. Sie schluckte, drehte verzweifelt den Kopf soweit zur Seite, dass sie hinter sich schauen konnte. Da war niemand. Erst langsam verstand sie ihre Situation. Im halbfinsteren Wald musste sich anstrengen, überhaupt etwas zu erkennen.
»Puh!« Erleichtert atmete sie auf. Sie sah niemanden, der sie überfallen wollte, und hatte inzwischen auch die Kastanie ertastet, die bei ihrem Aufprall auf dem Ast aus der Schale gesprungen und unter ihren Rücken gerollt war. Ein neuer Schreck durchfuhr sie, als sie sich ihre Lage wieder ins Gedächtnis rief. Sie schüttelte den Kopf. Nicht mehr, um einen unangenehmen Traum abzuwerfen, sondern vor Verwunderung. Verwunderung darüber, dass sie Dinge und Zustände nur nacheinander zu erkennen schien. Denn erst als sie sich im Klaren darüber war, auf einem Ast in einer Angst einflößenden Höhe über dem Waldboden geschlafen zu haben, und dass der Angreifer, der sie erst aufgescheucht und dann festgehalten hatte, sich als eine Kastanie und ihr Sicherungsgeschirr entpuppt hatte, nahm sie etwas anderes wahr. Etwas, das ihre Furcht nährte und sie bis in die frühen Morgenstunden wach halten sollte.
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