Fragend blicke ich sie an.
Jakob seufzt und erwidert: „Hat se net.“
Jetzt fällt der Groschen bei mir: Sie will meine Krankenkassenkarte. Jakob senkt die Stimme und erklärt in einer Kurzfassung den Grund für unseren Arztbesuch.
Das Mädchen seufzt und erklärt, dass sie irgendeine Karte bräuchte, woraufhin Jakob ihr sagt, dass sie seine nehmen soll. Mit vorwurfsvollem Blick folgt sie seinem Rat, steckt seine Karte in das Erfassungsgerät und gibt sie ihm dann zurück.
„Dann grad noch än Moment Platz nemme“, sagt sie und deutet mit dem Kopf auf den Wartebereich, aus dem uns schon von weitem neugierige Blicke entgegenschlagen.
Als wir hinlaufen, schauen die meisten weg, während andere keinen Hehl aus ihrer Neugier machen.
„Hallo“, sagt Jakob freundlich in die Runde, woraufhin die meisten auch ein Hallo murmeln, dann setzen er und ich uns auf die äußersten Plätze einer Wartebank. Außer uns sitzen noch eine junge Mutter mit zwei quengelnden Kindern, ein Mann in Handwerkerkleidung, zwei alte, miteinander tuschelnde Damen und ein etwa vierzehn- oder fünfzehnjähriger Junge im Wartebereich. Während die Damen weiterreden, wirft eine von ihnen immer wieder Blicke in Jakobs und meine Richtung.
„Warum schauen die so?“, flüstere ich ihm zu, was ihn zu amüsieren scheint.
„Weil sie dich nicht kennen“, erwidert er so dicht an meinem Ohr, dass sein Atem mich kitzelt. Ich blicke ihn an.
„Du bist etwas Neues, Exotisches, worüber es sich zu tratschen lohnt“, meint er mit einem amüsierten Grinsen, „Ignorier es einfach.“
„Und dich kennen sie?“, frage ich nach.
„Ich glaube, eine von ihnen war mit meiner Oma befreundet, keine Ahnung. Nur weil alte Leute dich kennen, heißt das nicht, dass du sie auch kennst. Meistens ist das Gegenteil der Fall…“
Die Frau mit den Kindern wird ins Behandlungszimmer gerufen. Die beiden alten Frauen quatschen immer noch über uns.
Ich nehme mir eine der Zeitschriften, die auf dem niedrigen Tisch vor uns liegen, und lese ein wenig darin. Es ist ein Naturmagazin mit Bildern von wunderschönen Landschaften. Ich blättere es durch und betrachte circa hundert Orte, an denen ich jetzt lieber wäre als hier.
„Jakob Sommer?“, sagt plötzlich eine Stimme und Jakob erhebt sich. Ich habe gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Ich laufe Jakob nach und folge ihm durch eine offene Tür neben der Rezeption. Es befindet sich nicht viel in dem Raum, nur ein Schreibtisch mit Drehstuhl, zwei weitere Stühle, ein Waschbecken und eine Liege. Am Schreibtisch sitzt ein Mann, der uns den Rücken zuwendet. Jakob setzt sich auf einen der anderen Stühle und ich folge zögernd seinem Beispiel.
Der Mann steht auf und schließt die Tür. Er ist vielleicht Mitte 40, hat dunkle Haare und eine Brille. Erst als er zurückkommt, scheint er mich zu bemerken.
„So, womit kann ich helfen?“, fragt er und nimmt auf seinem Stuhl Platz. Ich bin überrascht, dass er hochdeutsch spricht.
„Wir sind eigentlich nicht wegen mir hier, sondern wegen ihr.“ Jakob deutet mit dem Kopf auf mich. „Mein Bruder hat sie gestern im Wald gefunden, und sie hat ihr Gedächtnis verloren.“
Der Arzt blickt von Jakob zu mir und sein Blick ruht auf mir, ohne dass er etwas sagt.
„Er hat Recht“, sage ich nervös, „Alles woran ich mich erinnern kann, ist mein Vorname. Ich…“ Ich muss schlucken. „Ich glaube, dass mich etwas am Hinterkopf getroffen hat. Ich habe da eine Wunde…“
„Kann ich mir die mal ansehen?“, fragt der Arzt. Ich nicke und stehe auf. Dann wende ich ihm den Rücken zu, löse meinen Zopf und streiche mein Haar beiseite, sodass er die Wunde betrachten kann.
Der Arzt stößt einen Pfiff aus. „Das ist nicht gerade was Kleines. Eigentlich hätte man die auch nähen können, aber dafür ist es jetzt zu spät… Wurde die Wunde gereinigt?“
„Ich war gestern duschen“, murmele ich kleinlaut und wende mich wieder dem Arzt zu.
„Wir sollten sie trotzdem noch desinfizieren“, meint er, „Ich bin gleich zurück.“
Mit diesen Worten verlässt er das Zimmer und lässt uns allein zurück.
„Hey, alles klar?“, fragt Jakob.
Ich nicke. „Ich frage mich nur, wie das passiert sein könnte…“
In diesem Moment kommt der Arzt zurück, mit einem Tupfer und Desinfektionsmittel.
„Können Sie bitte auf der Liege Platz nehmen?“
Ich nicke und tue was er sagt. Dann hebe ich mein Haar wieder an, sodass er die Wunde sehen kann, und er beginnt, sie zu desinfizieren. Ich zucke zusammen und stoße einen Schmerzenslaut aus. Das Mittel brennt wie Feuer.
„Wir haben’s schon“, meint der Arzt in diesem Augenblick. Ich atme einen Moment lang durch, dann frage ich: „Glauben Sie, mein Gedächtnisverlust hängt mit dieser Wunde zusammen?“
„Das glaube ich nicht nur, da bin ich mir sogar sicher“, erwidert er.
Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, obwohl ich es bereits geahnt habe. Aber die Gewissheit zu haben, macht alles noch unheimlicher. „Und wie… habe ich diese Wunde bekommen?“
„Also, so wie ich das beurteile, wurden sie von einem schweren Gegenstand am Kopf getroffen. Hatten Sie vielleicht einen Autounfall? Haben Sie noch weitere Verletzungen?“
Ich schüttele den Kopf. „Nein. Als ich… als Lukas mich gefunden hat, war ich… ziemlich schmutzig, aber nicht verletzt.“
„Dann lässt das für mich nur einen Schluss zu“, meint der Arzt, „Jemand muss Sie niedergeschlagen haben.“
Früher:
Ich habe es niemandem erzählt – wem denn auch?
Meine Eltern haben ihre eigenen Sorgen und Probleme, und Freunde habe ich nicht – nicht mehr…
Die letzten Monate waren die schlimmsten meines Lebens, und dann taucht plötzlich dieser Brief auf und bringt alles noch mehr durcheinander, als es ohnehin schon war. Ich bin wütend auf mich selbst, darüber, dass ich mich schon wieder so aus der Bahn werfen lasse.
Und falls es doch einen Gott gibt, bin ich auch wütend auf ihn: War das letzte Jahr denn nicht schon genug?
Jetzt:
Mir ist plötzlich eiskalt. „Sind Sie sich sicher?“, frage ich, „Könnte ich nicht vielleicht… im Wald spazieren gegangen, und dann ausgerutscht sein, und gestürzt, oder so was?“
Doch der Arzt schüttelt den Kopf. „Nein, dann hätten Sie auch noch weitere Verletzungen. Aber wenn es wirklich nur diese eine Wunde ist, kann ich mir nichts anderes vorstellen.“
Geschockt senke ich den Blick. Wer sollte so etwas tun? Und vor allem: Warum?
„Ich verstehe das nicht…“, murmele ich.
„Werden die Erinnerungen denn zurückkommen?“, fragt Jakob in dem Moment.
Oh mein Gott, daran hatte ich ja noch gar nicht gedacht! Gespannt blicke ich den Arzt an, doch zu meiner Erleichterung nickt er.
„Bei fast allen durch Verletzungen ausgelösten Amnesien kommen die Erinnerungen irgendwann zurück.“
„Irgendwann?“, frage ich, während mein Herz schwer wird.
„Das variiert stark, aber in Ihrem Fall würde ich sagen, dass es frühestens in ein paar Tagen und spätestens in ein paar Wochen passieren wird.“
Ein paar Wochen… Und was mache ich bis dahin?
„Können wir denn irgendwas tun, um zu helfen?“, fragt Jakob.
„Ich fürchte nein“, meint der Arzt und wendet sich dann wieder an mich. „Es kann sein, dass bestimmte Trigger ihre Erinnerungen teilweise zurückbringen. Das ist oft der Fall. Bestimmte Orte, Klänge, Gerüche; es kann alles Mögliche sein. Aber außer Ihnen Schmerzmittel für die Wunde zu verschreiben, kann ich leider nichts tun.“
„Danke, aber das brauche ich nicht“, erwidere ich. Was ich brauche, sind meine Erinnerungen, und die kann mir im Moment niemand zurückgeben…
Читать дальше