1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 „Wurde dann vielleicht irgendwas bei Ihnen abgegeben, das mir gehören könnte?“, frage ich, „Handy, Geldbeutel…“
Doch er schüttelt den Kopf und erstickt meine Hoffnung im Keim. „Hier wurde schon seit über einem Monat nichts mehr abgegeben. Tut mir leid.“
„Danke trotzdem“, sagt Jakob.
Erneut verlassen wir einen Ort, von dem ich mir Hilfe erhofft hatte. Und erneut gehen wir mit leeren Händen.
„Was machen wir jetzt?“, frage ich Jakob, als wir wieder draußen sind. Die Sonne scheint geradezu ironisch vom strahlend blauen Himmel.
„Weiß nicht. Magst du ein Eis?“
So war die Frage eigentlich nicht gemeint, doch ich nicke trotzdem. Warum nicht? Jetzt gerade kann ich gut eine kleine Aufmunterung gebrauchen… Wir lassen das Auto stehen und laufen ein Stück.
„Hey Clara“, meint Jakob plötzlich, „Also wegen dem Gedächtnisverlust… Du musst dir keine Sorgen machen, wo du wohnen kannst, bis deine Erinnerungen zurückkommen. Wir werden dich jetzt nicht rausschmeißen oder so…“
Ich bleibe stehen und blicke ihn an. Als er es bemerkt, bleibt er ebenfalls stehen.
„Jakob, das…“ Ich schüttele den Kopf. „Danke, das… Das ist wahnsinnig nett!“ In einer plötzlichen Gefühlsregung umarme ich ihn. Er ist zunächst so überrascht, dass er nicht reagiert, aber nach einem Moment zieht er mich noch näher an sich. Es fühlt sich mehr als gut an – so eine Umarmung hatte ich bitter nötig, nach allem, was seit gestern Abend passiert ist…
Ich löse mich wieder von ihm und er lächelt mir aufmunternd zu. Wir überqueren die Straße und stehen jetzt vor einer relativ großen Bankfiliale. Davor fließt ein kleiner Bach entlang, an dem einige Menschen sitzen und Eis essen. Wir folgen dem Bachlauf und kommen in eine malerische Gasse mit Fachwerkhäusern und einem Wasserrad. Es sieht geradezu märchenhaft aus.
„Wow, es ist echt schön hier“, sage ich, während ich mich kaum sattsehen kann.
Jakob nickt. „Das stimmt. Wenn man schon so lange hier wohnt, verliert man manchmal den Blick dafür…“
Wir laufen bis ans Ende der Gasse und biegen dann links ab. Vor uns erstreckt sich ein Platz mit Kopfsteinpflaster, an dessen Ende ein Gebäude mit der Aufschrift ‚Rathaus‘ steht. Rechts von uns befindet sich ein runder Brunnen, an dem viele Kinder spielen, und direkt dahinter eine Terrasse, die brechend voll ist. Jakob und ich steigen die wenigen Stufen zur Terrasse nach oben und laufen zum Eingang der Eisdiele. Drinnen herrscht ebenfalls reger Betrieb, und drei Kunden stehen vor uns an der Theke. Zwei Kinder suchen sich gerade ihre Eissorten aus, und ein älterer Mann hinter der Theke reicht ihnen ihre Eiswaffeln. Als er aufblickt, um der Mutter der beiden den Preis zu nennen, bleibt sein Blick an Jakob hängen und er nickt ihm lächelnd zu.
„Jakob, wie geht’s dir?“, fragt er, als wir kurz darauf dran sind.
„Hey Matteo, mir geht’s gut, und dir?“, erwidert Jakob.
„Man kann nicht klagen“, erwidert der Mann mit italienischem Akzent, „Hast du deine Freundin mitgebracht?“ Er deutet auf mich.
„Eine gute Freundin“, entgegnet Jakob lächelnd.
Er nimmt eine Kugel Schoko und eine Kugel Straciatella. Ich entscheide mich für Schoko und Erdbeere.
„Schönen Tag noch, und bis bald!“, verabschiedet sich Matteo von uns, woraufhin wir beide „Danke, gleichfalls!“ erwidern.
„Du scheinst hier echt jeden zu kennen“, sage ich, als wir wieder draußen sind.
„Nach 20 Jahren sollte man das auch, oder?“, meint Jakob lachend.
Wir laufen zurück durch die Gasse mit den Fachwerkhäusern und setzen uns ebenfalls auf eine der Bänke am Rande des kleinen Flusses.
„Hast du irgendwelche Hobbys?“, frage ich, während ich an meinem Eis schlecke.
„Ich spiele Fußball“, erwidert er, „Im Verein in Völkersweiler, schon seit ich fünf war.“
„Das ist eine lange Zeit“, stelle ich fest.
„Wir haben jeden Samstag ein Spiel. Wenn du willst, kannst du ja mal zuschauen.“
Ich zögere.
„Ich würde mich freuen“, meint er dann, was mich schon wieder zum Lächeln bringt.
„Okay“, sage ich, „Aber nur, wenn du auch ein Tor schießt.“
„Das dürfte machbar sein“, erwidert Jakob grinsend. Er sieht jünger aus, wenn er lacht , denke ich.
„Und du bist früher hier zur Schule gegangen?“, frage ich.
„Ja, genau.“
„Das muss cool gewesen sein in einer so schönen Stadt…“
„War’s auch. Aber die Schule ist nicht direkt in der Stadt, sondern ein Stück weit im Wald. Apropos…“ Er holt sein Handy aus seiner Hosentasche und schaut auf die Uhr.
„Johanna ist wahrscheinlich schon zu Hause, aber ich glaube, Lukas ist noch dort. Ich frage ihn mal, ob wir ihn abholen sollen.“
Er tippt schnell eine Nachricht in sein Handy und lässt es dann wieder in seiner Hosentasche verschwinden.
Wir schweigen für einen Moment und ich schaue den Kindern zu, die im Wasser spielen und jauchzend am Ufer entlangrennen. Ich beneide sie für ihre Unbeschwertheit, und meine Gedanken wandern wieder zu der Wunde an meinem Hinterkopf, die mich vor ein scheinbar unlösbares Rätsel stellt. Doch bevor ich darüber nachdenken kann, piept Jakobs Handy, und er holt es wieder aus seiner Hosentasche.
„Lukas hat geschrieben, dass seine letzte Stunde gerade vorbei ist.“
Mit diesen Worten erhebt er sich. Schade, ich wäre gerne noch eine Weile mit ihm dort geblieben…
Wir fahren durch die kleine Stadt, und ich schaue durchs Fenster und sehe hin und wieder Menschen, die sich wie wir ein Eis gönnen, Einkaufstaschen tragen oder die offensichtlich gerade von der Schule kommen. An einer Ampel biegen wir rechts ab und kommen kurz darauf an einem Park vorbei. Die Straße führt jetzt steil bergauf und uns kommen immer mehr Schüler entgegen. Die Häuser weichen Bäumen und ehe ich mich versehe, sind wir scheinbar mitten im Wald.
„Sind wir hier wirklich richtig?“, frage ich zögernd.
„Wieso? Weil es so abgelegen ist?“, entgegnet Jakob lachend, „Ja, das ist ein bisschen nervig, wenn man eine Freistunde hat und hier festsitzt, aber die Ruhe ist eigentlich auch ganz nett.“
Wir biegen um eine scharfe Rechtskurve und jetzt kann ich tatsächlich mehrere Schulgebäude erkennen: Eins ist weiß gestrichen, das andere aus Sandstein; beide sehen modern aus. Vor den Gebäuden befindet sich eine Verkehrsinsel, um die Jakob herumfährt. Eine Gruppe Jugendlicher steht bei einer Tischtennisplatte wenige Meter entfernt. Jetzt sehe ich auch das Haltestellenschild neben ihnen. Sie warten hier also alle auf den Bus. Jakob lässt die Scheibe auf meiner Seite herunter, beugt sich ein Stück rüber und ruft: „Hey Lukas, spring rein!“
Jetzt sehe ich, wie Lukas sich aus der Gruppe löst, begleitet vom Tuscheln und dem verschämten Kichern mehrerer Mädchen, die ganz klar in Richtung Jakob starren. Lukas verdreht genervt die Augen, während er um den Wagen herumläuft. Das Tuscheln intensiviert sich, als Jakob aussteigt und den Sitz vorklappt, sodass Lukas sich auf die Rückbank setzen kann.
Manche recken sogar die Hälse, als wir losfahren. Ich weiß nicht, ob Jakob es nicht bemerkt hat, oder ob er es einfach nur ignoriert, weil er es gewohnt ist, aber Lukas ist es definitiv aufgefallen. Und es scheint tatsächlich öfters vorzukommen, so genervt wie er gewirkt hat.
„Und, wie war dein Tag?“, fragt Jakob, während wir den Berg hinunter fahren. Er spricht Pfälzisch, und ich höre interessiert zu und versuche, mir ein paar Wörter, die sich vom Hochdeutschen unterscheiden, zu merken. Jakob hat das T in ‚Tag‘ mehr wie ein D ausgesprochen, und das ‚G‘ wie ein ‚Ch‘, aber das Wort war langgezogen, sodass es sich nicht wie ‚Dach‘ anhört.
„Wie immer“, entgegnet Lukas.
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