„Dann bin wohl doch ich dran. Super.“ Mit diesen Worten erhebt sich Lukas und stapft aus der Küche.
„Ich bin dann auch mal wieder oben“, sagt Johanna und verschwindet ebenfalls.
„Jemand müsste noch mit Luchsi rausgehen“, sagt ihre Mutter.
„Okay, ich mache das“, erwidert Jakob unnötigerweise. Da wir als einzige noch da sind, ist es offensichtlich, dass es eher eine Aufforderung als eine Frage war.
„Ich komme mit, wenn das okay ist“, sage ich.
Jakob sieht mich an, als ob ihm eben erst wieder bewusst geworden ist, dass ich ja auch noch da bin.
„Also, nur wenn du willst.“
„Doch, klar“, meint er.
„Gut, aber bleibt nicht zu lange weg. Anna kommt heute Abend zum Essen“, sagt seine Mutter und wendet sich wieder den Kartoffeln zu. Anna, Jakobs Tante, die Bürgermeisterin. Immerhin funktioniert mein Kurzzeitgedächtnis noch.
Jakob verlässt die Küche und ich laufe ihm hinterher. Was habe ich da eben nur gesehen?
Ich würde gerne den Brief aus dem Müll holen und nachschauen, was drin steht, aber dafür müsste ich schon ziemlich unhöflich sein. Und außerdem hat sie mir gerade erlaubt, zu bleiben bis ich mein Gedächtnis zurückhabe. Da kann ich nicht riskieren, mit so einer Aktion alles zu zerstören.
„Luchsi!“, ruft Jakob, als wir im Flur stehen.
Sofort kommt der Hund angerannt und springt freudig an ihm hoch.
„Ja, das ist mein Mädchen!“, sagt er lächelnd und streichelt ihn.
Nun wendet Luchsi sich mir zu und ich zucke zurück.
„Nein, schön bei mir bleiben!“, sagt Jakob und zieht die Hundedame von mir weg. Er geht in die Hocke und streichelt ihr über den Kopf.
„Du musst keine Angst vor ihr haben, sie tut nichts“, sagt er dabei an mich gewandt.
„Sagen das nicht alle Hundebesitzer?“, erwidere ich zögernd.
„Da hast du wahrscheinlich Recht“, lacht er und blickt mich jetzt zum ersten Mal wieder an. Seine Augen sind ganz dunkel in diesem Licht, und sie glänzen wie polierte Onyxe.
„Komm, ich zeig’s dir!“
Zögernd gehe ich ebenfalls in die Hocke.
„Und jetzt streichle ihr mal über den Kopf.“ Jakob nimmt seine Hand weg und ich hebe zögernd meine Finger.
Als ich kurz davor bin, den Hundekopf zu berühren, schaue ich noch einmal zu ihm. Er nickt mir ermutigend zu. Langsam lasse ich meine Hand sinken und spüre sogleich Luchsis Fell unter meinen Fingern. Es ist weicher als ich gedacht hätte. Vorsichtig bewege ich meine Finger zurück und wiederhole die Bewegung noch ein paarmal. Die Hundedame hat ihre Augen geschlossen und scheint meine Streicheleinheiten richtig zu genießen. Überrascht lächele ich Jakob zu.
„Siehst du, sie mag dich“, meint er, erwidert mein Lächeln und steht wieder auf. Er nimmt eine Hundeleine von der Garderobe, legt sie Luchsi an und wir gehen zusammen nach draußen. Es ist immer noch perfektes Wetter und Luchsis Gegenwart hält uns zumindest nicht davon ab, uns alleine zu unterhalten. Einen Moment lang überlege ich, ob ich Jakob von dem Brief, der seine Mutter eben so schockiert zu haben scheint, erzählen sollte, oder von dem Menschen, den ich gestern im Garten gesehen habe. Doch dann wird mir wieder bewusst, dass ich ihn eigentlich gar nicht richtig kenne, und nur weil er nett zu mir war, bedeutet das nicht, dass wir Freunde sind.
„Wir können ja dorthin gehen, wo Lukas dich gestern gefunden hat und schauen, ob wir dein Handy oder deinen Geldbeutel finden“, meint er in diesem Moment.
„Das ist eine super Idee!“, erwidere ich. Daran hatte ich schon gar nicht mehr gedacht.
Wir laufen denselben Weg zurück, den ich gestern mit Lukas gekommen bin und es ist komisch, nun alles im Tageslicht zu sehen. Zudem wird mir jetzt erst so richtig bewusst, wie hügelig das Dorf ist. Die Straße zum Haus der Sommers ist so steil, dass Fahrrad fahren hier der reinste Albtraum sein muss…
„Tut mir leid, dass du das eben mitbekommen musstest“, sagt Jakob plötzlich und für einen Moment glaube ich, er meint die Sache mit dem Brief, bevor mir bewusst wird, dass er sich auf die Zankerei zwischen ihm und seinen Geschwistern bezieht.
„Ach, ich glaube zwischen Geschwistern ist das normal, dass man nicht immer einer Meinung ist“, winke ich ab.
„Ich wünschte nur, sie würden sich nicht ständig beschweren, wenn sie bei irgendwas helfen müssen. Unsere Eltern haben es schwer genug mit drei Kindern und dem Haus…“
„Kann ich mir vorstellen“, erwidere ich leise und blicke zu Luchsi, die fröhlich vor uns her trottet. „Wie lange habt ihr Luchsi eigentlich schon?“, frage ich, um ihn ein wenig abzulenken.
„Seit sieben Jahren“, entgegnet er, „Wir haben sie damals als Welpen bekommen und sie ist bei uns aufgewachsen.“
„Und wie seid ihr auf den Namen gekommen?“
Er lacht. „Das haben uns schon viele Leute gefragt. Ist ja auch nicht der typische Hundename… Irgendwie hat Johanna damals vorgeschlagen, dass wir sie ‚Luchs‘ nennen sollten. Keine Ahnung wieso, vielleicht waren das ihre Lieblingstiere. Jedenfalls dachten wir da noch, sie wäre ein Rüde. Kurz darauf haben wir dann aber festgestellt, dass sie doch ein Mädchen ist, und deshalb heißt sie jetzt Luchsi.“
Ich muss lachen. „Das ist echt süß!“
„Findest du?“, erwidert er ebenfalls lachend, „Ist zumindest besser als ‚Hasso‘ oder ‚Laika‘ oder so was…“
Wir sind mittlerweile am Waldrand angekommen und ich zögere für einen Moment.
„Ist das… okay für dich?“, fragt Jakob, der es sofort bemerkt.
Doch ich nicke, fasse mir ein Herz und laufe weiter, während ich versuche, mich an irgendetwas zu erinnern. Doch da ist einfach nichts außer der gewohnten Leere, wenn ich versuche daran zu denken, was passiert ist, bevor Lukas mich hier gefunden hat.
Ich blicke mich um, aber ich sehe keinerlei Hinweise auf irgendwas.
„Vielleicht wenn wir uns ein bisschen vom Weg entfernen?“, meint Jakob.
Ich schaue ihn zögernd an.
„Du musst dir keine Sorgen machen, ich kenne die Gegend wie meine Westentasche.“
„Okay, wenn du das sagst“, erwidere ich.
„Vertrau mir“, meint er lächelnd und läuft mit Luchsi die Böschung hinauf in den Wald.
Ich folge ihm zögernd. Das Gelände ist steiler als ich gedacht hätte und ich halte mich an einem dünnen Baumstamm fest, um nicht abzurutschen und mich vor Jakob zu blamieren. Er streckt mir seine Hand entgegen und ich ergreife sie dankbar.
„Okay, lass uns zuerst auf dieser Seite suchen und dann auf der anderen“, meint er.
Gemeinsam mit Luchsi suchen wir gefühlt jeden Quadratzentimeter ab, zuerst auf der linken, und dann auf der rechten Seite des Wegs, und gehen teilweise so tief in den Wald hinein, dass ich ohne Jakob überhaupt keine Orientierung mehr hätte. Doch außer für Luchsi, die zwischendurch immer wieder ihr Revier markiert, ohne Erfolg.
„Wir müssen leider zurück, wir essen bald“, meint Jakob, als wir am Ende des Wegs, der bis zu einer Straße führt, angekommen sind.
„Wie kann es sein, dass wir hier nichts finden? Das ist doch verrückt!“, stoße ich frustriert hervor.
„Na ja…“ Jakob zögert. „Wenn dich jemand niedergeschlagen hat, wieso sollte dieser Jemand dann nicht auch deine Sachen mitgenommen haben?“
„Du meinst, ich bin überfallen worden?“ Zum zweiten Mal an diesem Tag läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter.
„Möglich wäre es“, meint er, „Hoffentlich wissen wir es bald…“
„Ja, hoffentlich“, erwidere ich.
Wir laufen zurück und schweigen. Der Gedanke scheint uns beide so zu bedrücken, dass wir keinen Ton mehr herausbekommen.
Ganz anders ist es, als er die Tür aufschließt und wir das Haus wieder betreten. Bereits aus dem Flur schallen uns Lachen und Gesprächsfetzen entgegen. Luchsi kommt mit uns in die Küche, wo bereits Lukas, Johanna, Eva, Paul (ich habe Jakob bei unserem Spaziergang noch einmal nach den Namen seiner Eltern gefragt) und eine weitere Frau am Küchentisch sitzen.
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