Nachdem ich im Bad war, gehe ich nach unten. Die Küche ist leer, doch Nutella, Orangensaft und die Packung Toast liegen schon für mich auf dem Tisch, ebenso wie ein Teller, ein Glas und ein Messer. Es rührt mich, wie fürsorglich Jakob ist, auch wenn ich hier so ziemlich der einzige Mensch zu sein scheine, der das wertschätzt – im Gegensatz zu seinen Geschwistern. Ich denke daran, wie Lukas reagiert hat, als sein Bruder ihn gestern nach der Klausur gefragt hat, oder an Johannas ständige Zickereien. Klar, die beiden sind Teenager, aber sie könnten ruhig etwas dankbarer dafür sein, dass Jakob sie dauernd irgendwo hinfährt und wieder abholt. Doch er scheint schon so daran gewöhnt zu sein, dass es ihm gar nicht mehr auffällt…
Ich stecke zwei Scheiben Toast in den Toaster, dann mache ich mich wieder auf die Suche nach Jakob, was nicht gerade lange dauert. Im Wohnzimmer steht die Tür zur Terrasse offen, und draußen finde ich ihn, wie er in der Sonne sitzt und liest.
„Hey“, begrüße ich ihn.
„Hey“, erwidert er mit einem Lächeln und klappt das Buch zu, „Hast du gut geschlafen?“
„Sehr gut“, entgegne ich, „Wie ein Stein.“
Er lacht.
„Was liest du?“, frage ich und setze mich neben ihn auf das kleine Sofa.
„ Macbeth “, erwidert er und reicht mir das Buch.
„Magst du Shakespeare?“, frage ich.
„Ja, sehr“, sagt er, „Wir haben in der Schule Hamlet durchgenommen, und seitdem habe ich einige seiner Stücke gelesen.“
„Vielleicht kannst du’s mir ja mal ausleihen, wenn du fertig bist“, sage ich nach einem Blick auf den Buchrücken.
„Klar, gern“, erwidert er. Er blickt zur offenen Terrassentür und sagt: „Wenn du willst, kann ich dir drinnen Gesellschaft leisten.“
„Oder ich dir hier draußen“, sage ich lächelnd.
„Wenn dir das lieber ist“, entgegnet er ebenfalls lächelnd.
Ich nicke. „Gib mir nur eine Sekunde.“ Mit diesen Worten erhebe ich mich und gehe zurück in die Küche, wo mein Toast inzwischen fertig ist. Ich bestreiche die beiden Scheiben mit Nutella, schenke mir ein Glas Orangensaft aus und gehe zurück nach draußen. Ich stelle beides auf dem Glastisch neben der Couch ab und setze mich wieder neben Jakob.
„Ist das dein T-Shirt?“, fragt Jakob.
Ich schaue noch einmal an mir herunter und nicke. „Deine Mum hat meine Sachen für mich gewaschen. Das wird Johanna sicher freuen…“
„Sie ist im Moment echt schwierig“, sagt Jakob, „Aber sie meint das nicht so, ehrlich.“
Er zögert, bevor er fortfährt: „Ich habe das Gefühl, dass sie gerade versucht, sich selbst zu finden. Deshalb auch die dunklen Klamotten und das rebellische Verhalten.“
Ich lache schnaubend. „Hoffentlich hat sie sich bald gefunden.“
Doch er beachtet mich gar nicht. „Ich kann sie gut verstehen, bei mir hat es auch lange gedauert, bis ich wusste, was ich will. Und nicht mal jetzt weiß ich, ob ich überhaupt auf dem richtigen Weg bin…“
Ich blicke ihn an. „Wie meinst du das?“
„Na ja, ich werde bald für mindestens ein Semester ins Ausland gehen müssen, und ehrlich gesagt will ich das gar nicht.“ Er sieht mich an. „Ich habe das noch niemandem gesagt, aber ich habe das Gefühl, dass ich nicht weggehen sollte. Die Jungs vom Fußball haben das Training extra auf Montag und Freitag gelegt, weil ich an den Tagen keine Uni habe, und wenn ich gehe, müssen meine Geschwister noch öfter zu unserem Opa und meine Eltern müssen sie überall rumkutschieren, dabei haben sie ja schon so viel Stress wegen dem Haus…“ Die Worte scheinen nun geradezu aus ihm herauszusprudeln. Ich bin überrascht über seine plötzliche Offenheit. „Und das will ich nicht. Ich will einfach, dass es allen wieder gut geht und ich… ich will nicht egoistisch sein.“
Wir schweigen für einen Moment und er senkt beschämt den Blick. Das war so nicht geplant, da bin ich mir sicher.
„Du fühlst dich deiner Familie verpflichtet“, sage ich einen Moment später.
„Nein“, erwidert er schnell, „Nein, so war das gar nicht gemeint. Ist ja nicht so, als ob mir jemand sagen würde, dass ich irgendwas machen muss… Es ist nur, dass…“ Er seufzt. „Ach, ich weiß auch nicht.“
„Ist schon gut, Jakob“, sage ich, „Du musst mir nichts erklären, ich verstehe dich.“
Er blickt mich überrascht an.
„Du solltest nicht so streng mit dir selbst sein“, sage ich, und er lächelt. Mein Herz macht einen Satz.
Schnell sehe ich weg und widme mich lieber meinem späten Frühstück. Was mache ich da nur?
„Liest du das Buch eigentlich für die Uni?“, frage ich, ohne ihn anzusehen, um das Thema zu wechseln.
„Nein, das lese ich nur so“, erwidert er, „Ich muss jetzt in den Ferien zwei Hausarbeiten schreiben, aber für die habe ich zum Glück kein festes Abgabedatum.“
„Worüber musst du die schreiben?“ Ich wage immer noch nicht, ihn anzusehen. Was ist denn plötzlich nur los mit mir?
„Eine über den sozialen Aufstieg in einem Buch, das wir gelesen haben, und die andere über meinen Dialekt.“
Ich blicke ihn überrascht an.
„Ich habe eine Umfrage gemacht und will dadurch herausfinden, wie der Dialekt im Vergleich zur Standardsprache beurteilt wird.“
„Und, was hast du bisher herausgefunden?“, frage ich interessiert.
„Dass Pfälzisch nicht gerade den besten Ruf hat…“, meint er.
„Inwiefern?“
„Na ja, die meisten Leute finden, dass es sich anhört wie hinterwäldlerische Bauernsprache.“
Ich muss lachen. „Wie gemein!“
„Einer hat sogar geschrieben ‚Es klingt wie eine Vergewaltigung der deutschen Sprache.‘“
Ich pruste los und auch Jakob stimmt in mein Lachen mit ein. Es dauert einen Moment, bis ich mich wieder beruhigt habe, und mir schnaufend die Lachtränen aus den Augen wische.
„Freut mich ja sehr, dass das schlechte Gerede über meine Muttersprache dich so erheitert“, sagt Jakob mit affektiertem Blick, was mich nur noch mehr zum Lachen bringt, ebenso wie ihn.
„Ich finde euren Dialekt süß“, sage ich, und füge noch ein „Ehrlich!“ hinzu, als ich seinen skeptischen Blick sehe.
„Da bist du mit die Einzige“, meint er, „Wenn ich in Heidelberg Bus fahre und meine Mum mich anruft, und ich Pfälzisch mit ihr rede, werde ich immer angeschaut, als ob die Leute nicht glauben könnten, dass ich wirklich hier studiere.“ Er muss lachen. „ Wie hat es dieser Bauerntrampel nur an die Uni geschafft? “
„Das ist so dumm!“, sage ich kopfschüttelnd, „Als ob das irgendwas über dich aussagen würde!“
„Ich weiß“, erwidert er, „Aber die Vorurteile sind leider da, und werden sich auch nicht ändern. Alle Dialekte sterben früher oder später aus: In der Stadt reden mittlerweile so gut wie alle Hochdeutsch, und auch hier ist es so, dass mein Opa Wörter benutzt, die meine Eltern nicht benutzen, und meine Eltern benutzen Wörter, die ich nicht benutze. Und so geht nach und nach alles verloren…“
„Das ist echt schade“, sage ich leise.
Für eine Weile esse ich und keiner von uns sagt ein Wort. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass er auf seinem Handy herumtippt. Ich würde ihn gerne so viele Dinge fragen, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, und die Tatsache, dass ich ihm nichts über mich erzählen kann, macht das Ganze noch unangenehmer. Ich will nicht so neugierig wirken, auch wenn ich es in Wahrheit bin.
„Hast du irgendwelche Lieblingsfilme?“, höre ich mich plötzlich fragen.
Er blickt überrascht auf.
„Ich frage nur, weil ich… ja im Moment nicht viel zu tun habe“, sage ich schulterzuckend und komme mir dabei ziemlich dämlich vor.
„Also, ich glaube, mein Lieblingsfilm ist Inception . Hast du den mal gesehen?“, fragt er.
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