„Bist das du?“, frage ich an Jakob gewandt und deute auf das Bild. Eigentlich ist es eine rhetorische Frage: Seine mittlerweile markanter gewordenen Gesichtszüge sind auf dem Foto noch weich und kindlich, aber dennoch habe ich ihn sofort an den dunkeln Augen erkannt.
Er nickt. „Das war an meiner Konfirmation – ist schon eine ganze Weile her…“
Er deutet auf ein anderes Bild, das eine ältere Frau zeigt, die auf einer Wiese sitzt, auf ihrem Schoß ein Baby, und neben ihr zwei kleine Jungs, die fröhlich in die Kamera lachen.
„Das ist mein Lieblingsbild“, sagt er.
„Deine Oma?“, frage ich.
Er nickt. „Sie ist leider vor ein paar Jahren gestorben. Seitdem kommt jeden Tag einer von uns her, um sich um Opa zu kümmern.“
„Das tut mir leid“, murmele ich und spiele einen Moment lang mit dem Gedanken, seine Hand zu nehmen, lasse es dann aber doch lieber.
„Ist schon gut. Die Erinnerungen an sie werden wir für immer haben.“
Wir bleiben noch ein paar Minuten stehen und Jakob erklärt mir, wo und wann ein paar Bilder aufgenommen wurden. Dann setzen wir uns nach draußen zu seinem Großvater.
„Wie heißt du noch mal?“, fragt dieser mich mit einem so starken Akzent, dass Jakob für mich übersetzen muss.
„Clara“, erwidere ich dann.
„Und du wohnst in Völkersweiler?“ Er spricht das Wort ‚Völkersweiler‘ dabei wie ‚Velgeschweiler‘ aus, sodass mir erst bewusst wird, was er meint, als Jakob antwortet: „Ja, sie wohnt in Völkersweiler.“
„Es gab schon einmal eine Clara in Völkersweiler“, meint Jakobs Großvater plötzlich.
„Wirklich?“, frage ich, doch Jakob winkt nur ab. Sicher redet sein Opa öfters wirres Zeug, wenn die Krankheit schon fortgeschritten ist…
„Ja, aber das ist schon lange her“, meint er und blickt in den Himmel. Plötzlich scheint er ganz abwesend zu sein.
„Ich glaube, wir sollten dann mal die Pizza aus dem Ofen holen“, sagt Jakob und steht auf.
Während er die Pizza holt, decke ich den Tisch für uns drei. Schon verrückt: Ich kenne diesen Jungen erst seit zwei Tagen, und jetzt sitze ich hier und esse mit ihm und seinem Opa zu Abend. Ich kann dennoch nicht sagen, dass es sich schlecht anfühlt, eher im Gegenteil: Es kommt mir so vor, als würden wir uns schon viel länger kennen.
Jakob bringt die Pizza aus der Küche und schneidet sie für seinen Opa in kleine Stücke, sodass dieser es nicht selbst tun muss. Die Geste rührt mich. Es tut mir leid, dass Jakob und seine Geschwister ihren Großvater irgendwann endgültig an das Vergessen verlieren werden, an eine Krankheit, für die es keine Heilung gibt.
„Schmeckt’s dir, Opa?“, fragt Jakob, nachdem wir angefangen haben zu essen.
„Ist gut“, erwidert dieser, damit beschäftigt, Pizzastücke auf seiner Gabel aufzuspießen.
Nach dem Essen stellt Jakob seinem Großvater das richtige Fernsehprogramm ein – irgendeine Naturdoku – während ich anfange, das Geschirr zu spülen. Einen Moment später kommt er zu mir, nimmt sich ein Geschirrtuch und fängt an, das gespülte Geschirr abzutrocknen und einzuräumen.
„Danke fürs Helfen“, sagt er, „Es geht echt viel schneller zu zweit.“
„Gerne“, erwidere ich, „Ich hätte ansonsten ja eh nichts zu tun gehabt…“
„Es ist bestimmt total langweilig für dich hier“, sagt er plötzlich, „Ich meine, in Völkersweiler passiert eben nicht viel…“
„Nein, Quatsch“, erwidere ich, „Ich bin gerne bei euch, ehrlich.“
Er lächelt mir zu. „Da bin ich aber froh.“
„Jakob, hilf mir mal!“, ruft plötzlich sein Opa aus dem Wohnzimmer.
„Komme!“, antwortet Jakob, legt das Geschirrtuch beiseite und geht zu ihm.
Es dauert kurz, bis er zurück ist, sodass ich das restliche Geschirr fertig gespült, und abgetrocknet habe.
„Müssen wir sonst noch irgendwas machen?“, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. „Meine Mum hat letztes Wochenende erst die Wohnung geputzt und Wäsche gewaschen. Also haben wir jetzt frei.“ Er lächelt mir zu.
Wir verabschieden uns von Jakobs Großvater und machen uns auf den Heimweg. Dort angekommen fragt Eva ihren Sohn, wie es gelaufen ist.
„Er hatte einen guten Tag“, erwidert er, „Und dank Clara hatte ich heute auch nur halb so viel Arbeit“, sagt er an mich gewandt, was mich wieder zum Lächeln bringt.
„Ich dachte, wir sollten keine Freunde mitbringen“, stichelt Johanna, die neben ihrer Mutter auf der Couch sitzt und mit ihr irgendeine Datingshow guckt.
„Ich gehe jetzt hoch, muss an meiner Hausarbeit weiterschreiben“, sagt Jakob nur und ignoriert die Bemerkung.
Er bedankt sich im Flur noch einmal bei mir und verschwindet dann in seinem Zimmer, während ich ins Bad gehe, um zu duschen. Erneut starrt mir das blasse Gesicht aus dem Spiegel entgegen, das ich nicht wiedererkenne. Es ist jedes Mal wieder ein Schock.
„Wer bist du?“, flüstere ich und verzichte schon wieder auf eine Antwort.
Als ich in mein Zimmer zurückkehre, schalte ich den Fernseher ein, den ich bisher ignoriert hatte. Er ist klein und nicht gerade neu, aber ich will auch einfach nur ein bisschen abschalten und mich berieseln lassen – und dafür reicht er allemal. Ich zappe durch die Programme und bleibe schließlich bei derselben Datingshow hängen, die Johanna und ihre Mutter schauen. Ich frage mich, ob es tatsächlich Menschen gibt, die daran glauben, dass man auf diesem Weg die wahre Liebe finden kann. Mir fällt wieder ein, wie ich Jakob vorhin gefragt habe, ob er eine Freundin hat, und erneut ist es mir schrecklich peinlich. Jetzt denkt er bestimmt, ich will was von ihm…
Nach einer Weile schalte ich den Fernseher aus und lese stattdessen in dem Buch weiter, das ich mir aus dem Bücherregal genommen habe. Es bleibt weiterhin spannend: Sowohl der Mann als auch die Frau versuchen, einander kennenzulernen, aber ihnen werden dabei so viele Hindernisse in den Weg gelegt, dass ich bezweifle, dass die beiden am Schluss ein Happy End bekommen… Das Buch fesselt mich so sehr, dass ich irgendwann auf die Uhr schaue und erschrocken feststelle, dass es schon fast zwei Uhr ist. Ich gehe ins Bad, putze mir die Zähne und lege mich nach meinem üblichen Kontrollblick in den Garten hin. Wieder ist niemand dort unten und ich frage mich mittlerweile ernsthaft, ob ich mir die Person in der ersten Nacht nur vorgestellt habe…
In dieser Nacht wache ich schweißgebadet auf. Ich habe von Eddie geträumt, davon, dass er mich und Jakob verfolgt hat. Aber es waren nicht seine Schreie, oder sein schäbiges Aussehen, die mir am meisten Angst gemacht haben. Es waren seine Augen. Diese Augen verfolgen mich auch jetzt noch, als ich schnell atmend in die Dunkelheit starre. Es dauert eine ganze Weile, bis ich mich wieder soweit beruhigt habe, dass ich weiterschlafen kann.
Früher:
Ich habe das Geld genommen und mir davon ein Zugticket gekauft, genauso wie es in dem Brief stand. Und nun bin ich auf dem Weg in eine Stadt, in der ich noch nie gewesen bin.
Ich bin noch nie so weit weg von zu Hause gewesen, schon traurig.
Aber als ich so im Zug sitze, stelle ich mir vor, wie es wäre, das alles hinter mir zu lassen: die schlimme Zeit, die Menschen, die mich beleidigt und mit dem Finger auf mich gezeigt haben, und die Menschen, die mir mal so nah waren, und mir dann einen Dolch in den Rücken gerammt haben.
Was wäre, wenn ich eines Tages gehen würde, einfach so? Würde mich überhaupt jemand vermissen?
Jetzt:
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