„Danke“, erwidere ich mit einem zögernden Lächeln.
Die Blicke der beiden bleiben an mir hängen und ich fühle mich plötzlich nackt, trotz des Handtuchs.
„Ich gehe dann mal schlafen“, sage ich schnell, „Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“, erwidern beide, und Lukas fügt noch ein „Schlaf gut!“, hinzu, während ich mich schon auf dem Weg ins Gästezimmer befinde.
Auf dem Bett liegt ordentlich zusammengefaltet ein Schlafanzug, bestehend aus lila gestreiften Shorts und einem Top, auf dem in großen Buchstaben „I need coffee“ neben einem Coffee to Go-Becher steht. Ich weiß noch nicht mal, ob ich gerne Kaffee trinke. Seufzend nehme ich den Schlafanzug, unter dem noch eine Unterhose zum Vorschein kommt. Erneut werde ich rot, auch wenn ich alleine bin. Es ist mir trotzdem unangenehm.
Nach einem Kontrollblick auf die geschlossene Tür lasse ich das Handtuch fallen und ziehe mich um. Immerhin sind die Sachen bequem. Nur das Licht der Straßenlaternen fällt durch das Fenster und taucht das Zimmer in ein gespenstisch kaltes Licht. Ich schalte die kleine Nachttischlampe neben dem Bett ein und gehe zum Fenster, um den Rollladen nach unten zu lassen. Mein Blick fällt auf einen großen Garten, mit einem Brunnen, einem Pavillon und mehreren Bäumen. Plötzlich erregt etwas meine Aufmerksamkeit: Aus dem Augenwinkel habe ich eine Bewegung bei einem der Bäume wahrgenommen. Da, schon wieder! Jemand ist im Garten. Ein schattiger Umriss schält sich aus dem Dunkel des Gartens, doch ich kann nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Die Person hält kurz inne, und ich kann ihren durchdringenden Blick durch das Glas der Scheibe auf meiner Haut spüren. Im nächsten Moment verschmilzt sie wieder mit den Schatten und ist verschwunden.
Mein Herz schlägt so schnell, dass ich es in meinen Ohren rauschen hören kann. Ich reiße an dem Rollladen, sodass dieser scheppernd nach unten fällt. Dann lege ich mich ins Bett und ziehe mir die Decke bis unters Kinn. Wer auch immer das war, er oder sie hat mich beobachtet.
Du bist hier in Sicherheit , denke ich wieder und lasse mich langsam auf das Kopfkissen sinken. Als ein spitzer Schmerz durch meinen Kopf schießt, fahre ich sofort wieder hoch. Ich ziehe scharf die Luft ein und berühre reflexartig meinen Hinterkopf. Erneut ertönt der Schmerz in meinem Kopf, diesmal jedoch gedämpfter. Jetzt bin ich mir ganz sicher: Ich habe eine Verletzung. Langsam setze ich mich wieder auf.
In diesem Moment klopft es an der Tür. Mein Herz setzt schon wieder einen Schlag aus.
„Ja?“, sage ich zögernd.
Die Tür öffnet sich und Johanna kommt herein. Erleichtert atme ich aus.
„Hey Clara, sorry, dass ich dich noch mal störe!“, sagt sie mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen, und setzt sich zu mir auf die Bettkante, „Ich hab das eben nicht so gemeint. Ich war nur genervt, aber du kannst nichts dafür.“
„Macht nichts“, erwidere ich lächelnd, „Und danke, dass ich deine Sachen ausleihen kann.“
„Kein Problem“, entgegnet sie und will sich erheben, doch ich halte sie auf.
„Johanna, warte mal kurz.“ Sie blickt mich fragend an. „Kannst du dir vielleicht mal meinen Hinterkopf ansehen? Ich glaube, dass ich eine Verletzung habe.“
„Oh… ähm, klar“, sagt sie zögernd, „Warte, lass mich das Licht einschalten.“
Sie erhebt sich und drückt auf den Lichtschalter neben der Tür. Geblendet kneife ich die Augen zusammen. Dann kommt sie zu mir zurück und ich drehe ihr den Rücken zu. Ich spüre, wie sie meine Haare anhebt und scharf die Luft einzieht.
„Ja, du hast da ein bisschen Schorf. Tut es sehr weh?“
Ich drehe mich zu ihr um und blicke in ihr besorgtes Gesicht. Um sie zu beruhigen, schüttele ich den Kopf.
„Aber du solltest es vielleicht trotzdem mal von einem Arzt ansehen lassen. Das könnte doch gut etwas mit deinem Gedächtnisverlust zu tun haben…“
Aber natürlich: Ich habe irgendetwas auf den Hinterkopf bekommen und deswegen meine Erinnerungen verloren – alles macht Sinn! Hatte ich etwa einen Unfall? Oder wurde ich… geschlagen? Ich schaudere bei dem Gedanken daran.
„Wir werden morgen mit dir zum Arzt gehen, okay?“, sagt Johanna, die meine Beunruhigung bemerkt haben muss.
„Danke, das ist nett“, erwidere ich mit einem Lächeln.
„Dann schlaf dich mal gut aus. Ich muss morgen in die Schule“, sagt sie mit gequältem Gesichtsausdruck.
„Schlaf gut“, entgegne ich und lege mich auf die Seite, während Johanna aufsteht, das Licht ausschaltet und die Tür hinter sich zuzieht.
Diese Verletzung… Der Gedächtnisverlust… So einen Zufall gibt es doch gar nicht, oder? Ich überlege hin und her, versuche fieberhaft, mich zumindest an irgendwas zu erinnern, aber egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich habe keinen Erfolg.
Frustriert schließe ich die Augen und merke erst jetzt, wie müde ich eigentlich bin. Innerhalb weniger Sekunden bin ich bereits weggedämmert.
Ich renne. Durch nichtssagende Straßen, vorbei an kahlen Häusern und leeren Gesichtern.
Ich weiß nicht, wohin ich will, oder woher ich komme.
Ich weiß nur eines: Ich renne.
Früher:
Zunächst habe ich noch geglaubt, jemand wolle mich an der Nase herumführen. Ich habe geglaubt, dass es nur ein grausamer Scherz wäre, von wem auch immer. Aber niemand könnte so grausam sein, sich so etwas auszudenken. Oder zumindest hoffe ich das.
Ich habe niemandem davon erzählt – es macht mir Angst. Dieses Geheimnis, das ich plötzlich mit mir herumtrage, lastet schwer auf meinen Schultern, und ich ringe jeden Tag mit mir.
Vielleicht wäre es besser, es mit jemand anderem zu teilen…
Jetzt:
Ich erwache aus dem merkwürdigen Traum.
Ich blinzele mehrmals, während sich die Umrisse des Raums aus der Dunkelheit schälen.
Wo bin ich? , ist mein erster Gedanke. Während die Erinnerung an gestern in mein Gedächtnis zurückkehrt, wird die Frage durch eine andere abgelöst: Wer bin ich?
Ich kann mich an alles erinnern, was gestern passiert ist: Lukas, seine Familie, die Dusche, die Kopfwunde. Aber alles, was davor war, bleibt nach wie vor vollkommen ausgelöscht.
Ich schlucke hart und stehe vorsichtig auf. Trotz allem fühle ich mich erholt, und ein Blick auf den Radiowecker neben meinem Bett verrät mir auch warum: Es ist schon halb zwölf. Ich habe fast zwölf Stunden geschlafen.
Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und öffne den Rollladen. Es ist ein strahlend schöner Tag: Die Sonne scheint von einem hellblauen, wolkenlosen Himmel auf den großräumigen Garten, auf den ich schon gestern einen Blick geworfen habe. Ich denke wieder an die Person, die da unten stand und mich beobachtet hat, und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Wäre es möglich, dass ich mir das nur eingebildet habe, in meinem verwirrten Zustand? Insgeheim hoffe ich es.
Ich öffne das Fenster und gehe ins Bad, wo ich mir als erstes kaltes Wasser ins Gesicht spritze. Ein weiterer Blick in den Spiegel bringt mir immer noch keine Klarheit. Nun sehe ich die blauen Augen, die blasse Haut und das hellbraune Haar zum ersten Mal im Tageslicht, doch ich erkenne das Mädchen im Spiegel dennoch nicht.
Als ich nach Johannas Haarbürste greife, fällt mein Blick auf einen Becher, der auf dem Waschbeckenrand steht. Mein Name ist mit einem Edding auf das weiße Plastik geschrieben worden, und darin befinden sich eine ungeöffnete Tube Zahnpasta und eine Zahnbürste. Die Geste rührt mich: Diese Leute kennen mich gar nicht und sind trotzdem so gastfreundlich zu mir. Lächelnd betrachte ich den Becher und putze mir die Zähne. Dann trete ich aus dem Badezimmer in den Flur. Alles ist ruhig und ich weiß zunächst nicht, was ich jetzt tun soll. Dann entscheide ich mich, nach unten zu gehen. Barfuß gehe ich die Treppe hinab und spüre erneut, wie die Kälte des Bodens in meine Fußsohlen steigt.
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