„Wir sollten zu mir nach Hause gehen“, sagt er plötzlich, „Meine Eltern werden wissen, was zu tun ist.“
Ich nicke zögernd. Erwachsene zu Rate ziehen, das ist eine gute Idee. Oder zumindest fällt mir im Moment keine bessere ein.
Wir gehen los, und ich versuche erneut, tief durchzuatmen, um mich zu beruhigen. Das alles ist ganz und gar nicht normal. Mein Blick wandert zum Himmel. Vollmond. Dann schaue ich zu dem Hund, der fröhlich vor uns her rennt. Mir ist kalt.
Wir laufen noch nicht lange, als plötzlich der kalte Schein von weißem Laternenlicht durch das Blätterdach dringt. Wir nähern uns einem Ort. Zivilisation, das ist auf alle Fälle besser als der Wald. Ich blicke noch einmal zurück und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Was habe ich hier nur gemacht?
Als ich wieder nach vorne schaue, sehe ich bereits die ersten Häuser sowie ein Ortsschild.
„ Völkersweiler “, murmele ich.
„Sagt dir der Name was?“, fragt Lukas.
Ich schüttele den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste.“ Aber was zur Hölle mache ich dann hier? Das Gefühl der Hilflosigkeit manifestiert sich in Form eines dicken Kloßes in meinem Hals, der es mir schwer macht, zu schlucken. Ich spüre, wie Tränen in mir aufsteigen, doch ich blinzele sie schnell weg. Ich kann mir jetzt nicht erlauben zu weinen. Ich muss herausfinden, was in dem Wald passiert ist, und zwar am besten so schnell wie möglich.
Die Häuser in dem Ort sind alle ziemlich klein: Ein-, höchstens Zweifamilienhäuser. Ansonsten sieht es hier ganz nett aus: Fast alle Häuser, an denen wir vorbeilaufen, haben einen kleinen Garten. In manchen stehen Rutschen und Schaukeln, in manchen Gartenzwerge, in manchen gibt es nur Blumenbeete.
Ich merke, wie die Straße unter meinen Schuhsohlen ansteigt und blicke geradeaus, um zu sehen, dass wir jetzt bergauf laufen. Hoffentlich ist es nicht ganz so weit , denke ich und blicke zu Lukas. Er ist vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt, seine Haare heben sich dunkel gegen das Laternenlicht ab und seine Augen sind starr auf die Straße gerichtet. Er trägt eine Steppjacke, Jeans und Turnschuhe.
Und ich? Ich blicke an mir herunter und sehe erneut die Turnschuhe von vorhin. Chucks, in irgendeiner dunklen Farbe. Das weiße Licht schluckt alles Bunte, sodass sich die einzelnen Farben nur erahnen lassen. Aber ich stelle dennoch fest, dass meine Schuhe nicht mehr die neuesten sind. Beim Gehen merke ich, dass die Sohlen schon ziemlich abgelaufen sind, und abgesehen davon sehen sie auch ziemlich schmutzig aus. Aber nicht nur meine Schuhe, auch auf meiner Jeans glaube ich, schmutzige Flecken erkennen zu können. Prüfend halte ich meine Hände vor meinen Körper. Ja, auch die Ärmel meines Kapuzenpullovers sind schmutzig. Und da dieser eine helle Farbe hat, muss es hier wohl am offensichtlichsten ins Auge springen. Ob es Lukas vorhin aufgefallen ist? Auch auf meinen Händen sind Schmutzspuren. Sie sehen schlicht aus, kein Nagellack, kein Schmuck, keine Uhr. Nichts.
Aber wahrscheinlich brauche ich einfach keine Uhr, schließlich habe ich ja ein… Instinktiv greife ich in meine linke Hosentasche, stelle aber sofort fest, dass diese vollkommen leer ist. Daraufhin überprüfe ich auch meine rechte Hosentasche und die Einschubtaschen meines Pullis – nichts.
„Ich hab kein Handy“, murmele ich.
„Was?“, fragt Lukas, den ich wohl gerade aus seinen Gedanken gerissen habe.
„Ich hab kein Handy“, wiederhole ich, „Aber das… das ist doch nicht normal, oder?“
Lukas blickt mich etwas hilflos an.
„Ich hab auch keinen Geldbeutel dabei oder irgendwas anderes“, fahre ich fort, „Aber wer geht denn ohne das alles in den Wald?“
„Vielleicht hattest du eine Handtasche oder so“, meint Lukas.
„Die ich dann im Wald verloren habe“ Ich blicke ihn erschrocken an. „Das könnte doch passiert sein, oder? Ich muss zurück und danach suchen!“
„Heute machen wir das am besten nicht mehr“, erwidert Lukas, „Es ist schon zu spät und total dunkel. Und außerdem sind wir jetzt da.“ Mit diesen Worten deutet er auf ein Haus, das sich plötzlich wie aus dem Nichts vor uns erhebt. Es ist auffällig groß, wenn ich es mit den anderen Häusern, die mir auf unserem Weg begegnet sind, vergleiche. In der Dunkelheit kann ich nicht allzu viel erkennen, aber auf alle Fälle erheben sich noch zwei weitere Stockwerke über dem Erdgeschoss, und es ist in irgendeiner hellen Farbe gestrichen. Lukas geht zur Haustür, nimmt einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und schließt auf. Der Hund rennt voraus ins Innere. Lukas deutet auf den Lichtkegel, der zu uns in die Dunkelheit fällt, und ich trete ein, gefolgt von ihm.
Früher:
Ich halte den Brief in meinen Händen. Meine Fingerknöchel treten weiß hervor, so sehr verkrampfe ich mich, als ich die Worte lese, die eigentlich gar nicht dort stehen dürften.
Vielleicht werde ich ja verrückt und bilde mir den Brief nur ein. Doch jedes Mal, wenn ich an seiner Echtheit zweifle, sehe ich ihn wieder direkt vor mir. Ich kann ihn fühlen, ihn sehen und manchmal glaube ich sogar, den Duft seines Verfassers riechen zu können.
Eigentlich glaube ich nicht an Gott, nicht mehr.
Aber anscheinend können die Toten doch auferstehen.
Jetzt:
„Bin wieder da!“, ruft Lukas und läuft an mir vorbei durch den schmalen Flur. Zumindest erahne ich, dass es das ist, was er gesagt hat. Angehört hat es sich eher wie ‚Binwiado‘.
Ich folge ihm zögernd bis zu einer offenstehenden Tür zu unserer Rechten.
„Ich hab jemanden mitgebracht“, sagt er, immer noch in diesem komischen Dialekt, und tritt zur Seite, um den Blick auf mich freizugeben. Ich blicke in ein Wohnzimmer, in welchem eine Frau und ein Mann auf einer ausladenden Couch sitzen und in gedimmtem Licht auf einen Fernseher starren.
„Hallo“, sage ich leise.
Die beiden blicken fragend zu Lukas.
„Ich hab sie im Wald aufgegabelt. Sie war allein“, höre ich aus dem folgenden Dialekt-Wortschwall heraus.
Die Frau, die wahrscheinlich Lukas‘ Mutter ist, fragt nach, wie er das meint und er entgegnet, dass ich mich an nichts erinnern kann.
„Und sie kann kein Pfälzisch“, meint er dann mit einem Blick auf mich.
Pfälzisch . Das ist also diese komische Sprache, die in meinen Ohren so fremd klingt.
Die Frau steht auf und kommt zu uns. Ihr Mann blickt weiterhin nur neugierig von der Couch aus zu uns herüber.
„Ist das wahr? Du kannst dich an nichts erinnern?“ Sie bemüht sich, hochdeutsch zu sprechen, doch ich höre immer noch einen kleinen pfälzischen Einschlag. Aber zumindest verstehe ich sie jetzt viel besser als vorher.
„Ich glaube, nur an meinen Vornamen“, erwidere ich zögernd, „Clara.“
„Clara…“, murmelt die Frau mit einem nachdenklichen Blick auf mein Gesicht, „Du musst auf jeden Fall so bald wie möglich zu einem Arzt, der sich das ansieht.“
„Sollen wir sie in die Notaufnahme fahren?“, fragt Lukas neben mir.
Die Frau wendet sich wieder mir zu: „Hast du irgendwelche Schmerzen oder ist dir schlecht?“
Ich schüttele den Kopf.
„Dann warten wir bis morgen, wenn das für dich okay ist“, sagt sie.
Oh ja, das ist mir sogar sehr recht, denn ich bin schrecklich erschöpft. Es fällt mir erst jetzt so richtig auf, aber ich glaube, wenn ich mich jetzt hier auf den Boden legen würde, würde ich direkt einschlafen.
„Wir haben ein Gästezimmer, wenn du willst, kannst du dort die Nacht verbringen“, sagt sie. Das klingt wie Musik in meinen Ohren.
„Danke, das ist sehr nett“, erwidere ich.
„Und wenn du willst, kannst du dich auch abduschen.“ Ihr sind also meine schmutzigen Kleider aufgefallen. „Von was bist du so… dreckig?“, fragt sie verwirrt.
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