Ich zucke nur mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“
„Gib ihr ein paar Kleider von Johanna“, sagt sie an Lukas gewandt, und dann wieder zu mir: „Das Bad ist oben, die erste Tür rechts. Deine Kleider kannst du vor die Waschmaschine legen, die wasche ich mit, wenn du magst.“
„Danke“, erwidere ich erneut, „Das ist wirklich sehr, sehr nett von Ihnen.“
„Sag ruhig ‚du‘ zu mir“, entgegnet sie lächelnd. Ich bin Eva und das ist mein Mann Paul.“ Sie deutet auf den Mann, der mir vom Sofa aus zunickt.
Der ist ja wirklich sehr gesprächig , denke ich.
Ich drehe mich um und will gerade zur Treppe laufen, als sich plötzlich erneut die Tür öffnet. Wie auf ein Kommando hin stürmt Luchsi los und springt an der Person hoch, die jetzt eintritt. Es ist wieder ein Junge, aber er ist etwas größer und scheint auch älter zu sein als Lukas.
„Hey Luchsi!“, sagt der Junge lachend und streichelt dem Hund durchs Fell, „Ja fein!“
„Jakob“, sagt Eva und er blickt auf. Sofort fällt sein Blick auf mich. Ich muss schlucken und würde am liebsten zu Boden blicken, aber etwas hält mich davon ab. Ich frage mich, ob es die Neugier in seinem Blick ist oder die Überraschung, doch etwas hindert mich daran, meinen Blick abzuwenden.
Eva spricht pfälzisch mit ihm und ich verstehe nur ein paar Wörter, aber sie erzählt ihm im Großen und Ganzen dasselbe, was wir eben besprochen haben. Und Lukas wirft am Ende noch ein, dass ich kein Pfälzisch spreche.
Erstaunt schaut Jakob wieder zu mir. „Du weißt gar nichts mehr?“, fragt er, doch bei ihm klingt es nicht so vollkommen fassungslos wie bei Lukas und Eva, sondern eher… besorgt?
Ich schüttele den Kopf. „Nein, nichts.“
„Das tut mir leid“, sagt er leise und ich spüre, wie die Tränen erneut versuchen, sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen.
„Gehst du dann Johanna abholen?“, fragt Eva, oder zumindest glaube ich, dass sie das gefragt hat, denn es fällt mir immer noch genauso schwer wie vorhin, den Dialekt zu verstehen. Er nickt und geht wieder zur Haustür. Ich blicke ihm kurz nach und verabschiede mich dann nach oben, wo ich wie empfohlen duschen will.
Ich finde das Bad sofort, es befindet sich direkt neben der Treppe. Als ich das Licht einschalte, erstarre ich für einen Moment, denn aus dem Spiegel blickt mir ein fremdes Gesicht entgegen.
Das bin also ich? Prüfend lehne ich mich über dem Waschbecken ein Stück nach vorn. Ja, das Gesicht gehört tatsächlich mir. Graublaue Augen starren mir aus einem blassen Gesicht entgegen, eine leicht nach oben geneigte Stupsnase über relativ vollen Lippen. Ich habe dunkle Ringe unter den Augen; keine Ahnung, wann ich das letzte Mal geschlafen habe… Mein Haar ist hellbraun und ich trage es in einem Pferdeschwanz. Ich löse das Haargummi und mein Haar fällt mir in langen Wellen über die Schultern. Ich fahre mir durch die etwas strähnigen Locken und stelle erneut fest, dass mir nichts von alldem bekannt vorkommt. Mir klebt ein wenig Dreck auf der Wange. Ich wische ihn mir mit dem Handrücken weg, dann schließe ich mich ein und beginne, mich auszuziehen.
Erst jetzt fällt mir auf, wie dreckig meine Klamotten sind: Alles ist mit rotbraunen Sandflecken überzogen – die gestreifte Kapuzenjacke, die zerschlissenen Jeans und auch die dunkelblauen Chucks an meinen Füßen. Das einzige halbwegs saubere Kleidungsstück ist das dunkle T-Shirt mit irgendeinem englischen Aufdruck, der nicht besonders viel Sinn macht. Könnte allerdings auch sein, dass man die Flecken auf dem dunklen Stoff nur nicht so gut sieht…
Bevor ich in die Dusche trete, betrachte ich mich noch einmal kurz im Spiegel, doch immer noch scheint es der Körper einer Fremden zu sein, in dem ich mich befinde. Erneut spüre ich den Kloß in meinem Hals, doch bevor mir die Tränen kommen, steige ich in die Duschkabine und drehe den Wasserhahn auf. Es ist ein unglaublich angenehmes Gefühl, das warme Wasser über meinen Kopf laufen zu spüren, und zum ersten Mal an diesem Abend fühle ich so etwas wie Erleichterung. Ich bin in Sicherheit. Ich kann hier schlafen. Mir wird hier nichts passieren. Fürs Erste geht es mir gut, auch wenn ich mich an nichts erinnern kann.
Eine Welle der Dankbarkeit überrollt mich. Wer weiß, was mit mir passiert wäre, wenn Lukas mich nicht im Wald aufgegabelt hätte…
Ich finde nur ein Shampoo und ein Duschgel für Frauen – vermutlich gehören sie auch dieser Johanna.
Ich schäume meinen Körper und meine Haare damit ein und fahre zusammen, als ich meinen Hinterkopf berühre. Etwas tut weh, aber meine Finger sind nicht rot, also blute ich nicht. Ein wenig beunruhigt drehe ich das Wasser wieder auf. Ich meide die Stelle, während ich den Schaum abspüle.
Als ich aus der Dusche steige, fühle ich mich wie neugeboren. Ich rieche an meinen blumig duftenden Haaren, schlinge mir ein Handtuch, das ich aus dem Badregal nehme, um den Körper, und betrachte mich noch einmal im Spiegel. Immer noch klingelt nichts.
Seufzend fahre ich mir durch die verknoteten Haare. Mein Blick fällt auf eine Haarbürste, die im Regal liegt. Ich ziehe ein paar dunkle Haare aus den Borsten, bevor ich sie benutze.
„Sorry, Johanna“, murmele ich, während ich mein Haar entwirre.
Danach greife ich nach dem ebenfalls bereitliegenden Föhn und trockne mein Haar.
Bevor ich aus dem Badezimmer trete, werfe ich vorsichtig einen Blick auf den Gang. Niemand da, also schließe ich die Tür hinter mir und laufe in Richtung Gästezimmer, als zwei Stimmen meine Aufmerksamkeit erregen. Eine davon gehört Lukas, die andere einer Frau. Beide reden pfälzisch, deshalb verstehe ich nur etwa die Hälfte. Aber ich kapiere sofort, worum es in ihrer Diskussion geht: um mich.
„Sie hat doch nichts! Was hätte ich denn machen sollen?“
„Mich vorher fragen vielleicht?“
„Oh Mann, Jojo, du warst halt nicht da!“
„Warten bis ich da bin?“
So in etwa geht das Gespräch, dem ich lausche, während ich mich vorsichtig der Tür nähere, aus der die Stimmen dringen. Die Kälte des Fußbodens zieht durch meine nackten Sohlen in meinen gesamten Körper, doch ich bin zu neugierig, um jetzt umzukehren. Ich sehe das Mädchen nur von hinten: Sie hat tatsächlich schwarzes Haar, das ihr glatt bis knapp über die Schultern fällt. Sie trägt einen lilafarbenen Hoodie, einen schwarzen Minirock und eine Netzstrumpfhose. Über ihre Schulter hinweg sehe ich Lukas, der mit genervtem Gesichtsausdruck die Hände ringt.
„Es musste aber jetzt sein!“
„Sorry, dass ich genervt bin, wenn du meine Sachen irgendwelchen dahergelaufenen Waldmädchen gibst!“
In dem Moment trifft mich Lukas‘ Blick. Ich weiche erschrocken zurück, doch das Mädchen hat schon begriffen: Sie dreht sich zu mir um und ihr Blick fällt auf mich. Ich erröte und stammele eine Entschuldigung.
„Ich wollte euch nicht belauschen, ehrlich!“
Wie ihre Brüder wechselt auch Johanna sofort ins Hochdeutsche.
„Ähm, du bist also…?“
„Das Waldmädchen“, kann ich mir nicht verkneifen, und strecke ihr meine Hand entgegen, während meine andere weiterhin das Handtuch über meiner Brust festhält, „Clara.“
„Hi, ich bin Johanna“, erwidert sie und schüttelt meine Hand. Sie ist ebenfalls rot geworden, und es ist mehr als deutlich, wie unangenehm ihr die ganze Situation ist. Lukas hingegen scheint sich prächtig zu amüsieren: Auf seinem Gesicht hat sich ein belustigtes Grinsen ausgebreitet.
„Tut mir leid, dass du mir deine Sachen ausleihen musst“, sage ich zögernd.
„Nein! Nein, das muss es nicht, ehrlich!“, erwidert sie. Ihre mit dunklem Kajal umrandeten Augen sind vor Schreck weit geöffnet. „Wirklich, das ist kein Problem. Lukas hat dir auch schon ein paar Schlafsachen aufs Bett gelegt.“
Читать дальше