„Ist ja gut“, beendete Andy Haralds schon beinahe verzweifelten Versuch, der Unterwelt zu entkommen.
„In erster Linie interessiert uns, welche schweren Jungs Hagemann während seiner Karriere hinter Gitter gebracht hat und die nun wieder auf freiem Fuße wandeln und sich womöglich rächen wollen. Sein privates Umfeld sollten wir auch nicht außer Acht lassen. Ebenso die früheren Kollegen; sei es in seiner Zeit in Seligenstadt, als auch am Landgericht Darmstadt.“
Harald wies Andy den Arbeitsplatz von Lars zu.
„Unser Kleiner konnte schon Einiges über Hagemann recherchieren. Die Ausdrücke liegen hier.“
Andy überflog den Text, während Harald sich erneut der Vermisstenakte von Daniel Hagemann widmete.
„Karate! Kaum zu glauben, wenn man das zarte Gesicht sieht. Er hat so etwas feminines an sich.“
Harald hielt Andy die Seite mit dem Foto des damals 17-Jährigen entgegen. „Kann es nicht doch eine Entführung mit anschließendem Mord gewesen sein?“
„Auch wenn der Junge nicht so aussieht. Karate ist ein Kampfsport, den er, schau, hier steht es“, Andys Zeigefinger ging zu der Zeile in dem Protokoll, „schon mehr als drei Jahre ausführte. Glaube mir, der hätte sich bestimmt gewehrt.
Mich macht aber etwas ganz anderes stutzig. Laut Daniels Lehrern und auch nach Aussage seiner Mutter, Maria Hagemann, waren Daniel und sein Freund, ein gewisser Oliver Krug, die besten Freunde. Würdest du“, wandte Andy sich an Harald, „nicht deinem besten Freund erzählen, wenn du von zuhause weglaufen willst und vor allem warum?“
„Glaube schon“, stimmte er ihm zu.
„Seine Mutter sagte aus, dass keinerlei Kleidungsstücke in Daniels Schrank fehlten. Auch hätte er, in der Schule, nie Geld bei sich gehabt und an sein Sparbuch wäre er nicht herangekommen. Das, so stellte die Polizei damals auch fest, gut verwahrt im Tresor seines Vaters lag. Ich meine … die Jungs waren in einem Alter, in dem man doch schon darüber nachdenkt, wie man ohne Geld auskommen soll.“
„Sollte man annehmen“, pflichtete Harald ebenfalls bei. „Wenn ich dich richtig verstehe, willst du damit andeuten, dass die beiden diesen Schritt zusammen geplant haben?“
Statt einer Antwort senkte Andy erneut seinen Kopf in die Unterlagen. „Laut seinen Lehrern ist Daniel pünktlich in der Schule angekommen und verließ diese auch wieder mit seinem Freund, Oliver Krug. Anschließend, so Oliver Aussage, wollte Daniel zur Karatestunde.“
„Er hätte also mehr als eine oder eineinhalb Stunden Zeit gehabt zu verschwinden ohne, dass jemand etwas bemerkt hätte“, spann Harald den Faden weiter.
„Was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann ist, dass Heinz Hagemann nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um seinen Sohn zu finden. Ich meine …“
„Mit dieser Eingebung bist du nicht alleine“, unterbrach ihn Harald. „Lars warf den Gedanken auch schon in den Raum.“
„Ich meine“, fuhr Andy fort, „wenn ich mir vorstelle, dass mein Sohn, wenn ich einen hätte ...“
„Was nicht ist, kann ja noch werden“, wurde er von Harald erneut unterbrochen.
„Glaube ich kaum. Also, wenn mein Kind von einem auf den anderen Tag verschwinden würde, dann würde ich doch alle mir zur Verfügung stehenden Mitteln nutzen um die Suche voranzutreiben. Als Staatsanwalt hatte Hagemann doch mehr Möglichkeiten als ein Normalbürger. Aber die Suche wurde, nach nur wenigen Wochen eingestellt und wie es aussieht, ohne Widerspruch von Seiten der Hagemanns. Ich sage dir, in dieser Familie lief etwas absolut nicht rund.“
Der schiefe Blick von Andy, erinnerte ihn stark an Nicoles Miene, wenn sie so ein Bauchgefühl hatte.
„Wenn du so guckst, erinnerst du mich an Nicole“, sagte Harald dann auch prompt. „Ihr werdet euch immer ähnlicher.“
„Schön“, erwiderte Andy. „Dann stimmt es was der Volksmund sagt; dass bei einer guten Partnerschaft manche Eigenheiten auf den jeweils anderen abfärben.“
„So, sagt das der Volksmund?“ Haralds Mundwinkel zuckten. „Aber, ich denke du hast recht. Es könnte sein, dass Oliver seinem Freund geholfen hat und vielleicht Kleidung, Geld, et cetera irgendwo deponiert hatte.“
„Guck mal“, Herbert griff in seine Jackentasche. „Ich hab dir e Handy mitgebracht. Is eins von meine alte und net es neueste Model. Damit kommst de aber erst mal über die Runde, bis die Elfi dir e neues kauft.“
Neugierig kam Leon näher und betrachtete das Handy. „Cool. So eins habe ich neulich bei uns auf dem Trödelmarkt gesehen.“
„Ich hab doch gesagt, es ist nicht das neueste Modell“, entgegnete Herbert mit leicht säuerlicher Miene.
„Entschuldigung Herr Walter.“ Leon senkte den Kopf. „Ich wollte ihr Handy nicht schlecht reden. Haben Sie noch mehrere davon?“
„So drei oder vier. Wieso?“ Augenblicklich erinnerte er sich an eine ähnliche Reaktion eines Jugendlichen vor einigen Jahren und lächelte. „Scheint wohl wieder hip zu sein?“
„Was? Ach so ja. Sie meinen die Teile sind wieder gesucht“, erwiderte Leon.
„Ich hab dir auch gleich a Telefonkarte eingesetzt und mit 20 Euro aufgelade“, wandte er sich Sepp zu. „Den Vertrag musste ich halt auf mich abschließe, sonst wär des net gegange, wege der Unterschrift.“
Mit skeptischem Blick betrachtete Sepp das Mobiltelefon und dachte: Eischentlich schee vom Herbert, dass der sich so kimmert. Awer, des is aach so en Techniknarr. Vielleicht hot der do e Wanze oigebaut und kann heern, mit wem ich telefonier.
Die Vorstellung, seine Gespräche könnten belauscht werden, verunsicherten ihn. Auf der anderen Seite wusste er nicht, wann Elfi wieder in der Stimmung wäre, ihm ein neues Telefon zu kaufen. Außerdem, wenn Leon das Handy schon cool befand, was sollte er dagegen haben?
„Und, was sagst du?“, fragte Herbert nach.
„Macht des aach Bilder? Des brauch isch unbedingt. Mir zwaa“, Sepp wedelte mit seinen bandagierten Fingern zwischen sich und seinem Enkel hin und her, „schicke uns dauernd Bilder und so was. Stimmt’s Leon?“
Der nickte.
„Klar, kannst de damit auch fotografieren“, bestätigte Herbert.
Jetzt grinste Sepp zufrieden. „Du musst mir awer noch zeische, wie des funktioniert. Des soll ja bei jedem von dene Dinger annerster soi, gell Leon?“
„Und ich hab schon gedacht, du traust mir net.“
Listig schaute Herbert seinen Nachbarn an und Sepp zuckte, wie bei einem Dummen-Jungen-Streich erwischt, zusammen.
„Nadirlich trau isch dir. Was glaabst de dann von mir?“
Sepp nahm das Mobiltelefon entgegen, als sei es eine sakrale Reliquie, was vornehmlich aber seinen verbundenen Fingern geschuldet war.
Im zweiten Kreisverkehr nach der Autobahnabfahrt bog Nicole rechts in die Straße, in der das Haus der Hagemanns stand und fand auch einen geeigneten Parkplatz. Heute wäre sie gerne noch einmal um den Block gefahren, um das Unvermeidliche für einige Minuten hinauszuschieben.
Trotz all der Jahre, in denen sie schon öfter mit dieser unerfreulichen Aufgabe konfrontiert worden war, machte sich noch immer ein ungutes Gefühl in ihrer Magengegend breit.
Wie würde die Witwe, die noch nicht wusste, dass sie ab sofort eine war, auf den plötzlichen Tod ihres Ehemanns reagieren?
Ein stummer Zusammenbruch wäre das Schlimmste, was passieren konnte. Dann bestünde für Nicole und Lars erst einmal keine Chance, auf ihre dringlichen Fragen eine Antwort zu erhalten. Sie hätten lediglich eine unheilvolle Nachricht überbracht und müssten unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Oder aber ein kurzer heftiger Nervenzusammenbruch? Für ihre Ermittlungen wäre es jedenfalls hilfreicher. Nicole hatte festgestellt, dass insbesondere Frauen sich nach dem ersten Schock schnell wieder im Griff hatten; sich sogar für ihre außer Kontrolle geratene Emotion entschuldigten. Die anschließende Befragung war dann meistens erfolgreich.
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