Und da, an diesem Tisch hatte auch Moni gesessen. Moni, an die sie nicht mehr denken wollte. Moni, deren Freundschaft sie verraten, die sie im Stich gelassen hatte.
Hanne öffnete die Augen, das wohlige Gefühl war geschwunden, ihr war übel. Dass sie bald darauf auf eigenen Wunsch und Betreiben in eine Grundschule in Köln versetzt wurde, spielte jetzt kaum noch eine Rolle.
Karla rappte und schmetterte Diam's " Jeune demoiselle " in den klaren blauen Himmel über Toulouse. Hingerissen krähte sie mit Zaz " Je veux":
" Donnez-moi une suite au Ritz...des bijoux...une fortune ",
und war sich absolut nicht sicher, zu der Suite, den Juwelen und dem Vermögen nein sagen zu können.
Feuchtwarme benzingeschwängerte Luft drang durch das Seitenfenster ins Wageninnere. Die Hitze flimmerte auf der Straße. Dabei war
es erst Juni, genaugenommen, Donnerstag, der 13. Juni.
Es herrschte jetzt ein Verkehrchen vom Feinsten auf der A9. Sète, Montpellier, bald schon würde sie Nimes erreichen, dann Arles, Salon de Provence. Was für ein Name!
Dort standen wahrscheinlich Sofas oder französisch canapés in den Straßen.
Bald surfte sie mit im endlosen Fluss der Urlauberfahrzeuge, der sich über die A8 Richtung Fréjus, Cannes, Nizza und Monaco ergoss. Es war heiß, richtig sommerheiß und die schnelle Fahrt machte Karla ganz schön müde. Höhepunkt war die Abfahrt 47 nach Vence und Tourettes sur Loup.
War es wirklich vernünftig gewesen ohne Paul loszufahren? Um dann fast zwei ganze Tage auf ihn zu warten? War das nicht mehr als verwegen?
Karla riss verzweifelt die Augen auf. Straßen: Über ihr! Hinter ihr! Vor ihr! Zu beiden Seiten Straßen, Wege, Überwege, Beton! Dem Himmel sei Dank für das Navigationsgerät. Mit ruhiger Stimme - wie um alles auf der Welt schaffte das die Sprecherin nur? - lotste diese Madame sie aus dem absoluten Chaos in ruhigere Gefilde.
Leute: es war doch erst Juni! In La Colle sur Loup steuerte sie schnell den großen Leclerc an. Vorräte fassen und dann erst mal im Haus bleiben und Luft schöpfen, das war der Plan.
Auch auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums tobte der Verkehr, suchten Einkaufssüchtige nach Parkplätzen. Tief Luft holen, das Zittern in den Kniekehlen überwinden und einen Schluck Wasser trinken. Dann schnell handeln, einen Einkaufswagen krallen und los.
Gefühlte Stunden später wankte Karla trotz der Klimaanlage im Einkaufszentrum und wegen der geistig verwirrten Kunden
zum Wagen zurück und sank erschöpft hinter das Lenkrad.
Aber kaum hatte sie La Colle hinter sich gelassen, schlängelte sich die Straße durch grünende Vegetation, legte kühlenden Balsam auf gereizte Nerven, führte vorbei an St. Paul de Vence in Richtung Vence. Namen wie Urlaubsträume! „Links halten, wieder links halten“, und schon befand sie sich auf der D 2210.
Tourettes konnte kommen, wenn möglich mit wenig Menschheit und mit viel Ruhe! Die Hinweise von Paul waren klar und deutlich gewesen. Fahr bis zum Place du Marché und dann vor dem Café du Midi scharf rechts ab. Bald wieder rechts in die Rue du Maire und hoch, immer weiter den Berg hoch, bis zu den Mülltonnen. Und dann... Hier brauchte man Nerven wie Drahtseile.
Kaum war die Straße nur breit genug für ein Auto, kam ihr von hoch oben ein Fahrzeug entgegen, natürlich ein Kleinlaster. Karla zitterten die Knie und die Hände. Quelle merde!
Hinter den Mülltonnen ging es auf einem Schotterweg weiter.
Neben dem verwilderten Rasenstück des ersten Hauses parkte ein silbernes Cabrio mit Kennzeichen 06 und zwei weitere Wagen mit Kölner Kennzeichen. Köln!? Dafür fuhr sie nun nach
Tourrettes sur Loup!?
Das nächste Gebäude hatte zwei vorspringende Flügel und einen mittigen Verbindungsteil und prunkte mit Ziegelsteinhaufen, Zementsäcken, einer Zementmischmaschine und weiteren Bauprodukten.
Laute Opernmusik dröhnte aus den Fenstern des Hauses, während rechter Hand zwei leicht bekleidete gebräunte Individuen mit ihren Schlagbohrern dagegenhielten. Steinreste, Mörtel und anderer Schutt, der Abfall darstellen sollte, wurde wohl mit dem Gedanken " hier wird nichts vergeudet " auf der Schotterzufahrt versammelt und führte so zu einer bizarr anzuschauenden aber schwer zu bewältigenden Erhöhung der Fahrbahn.
Vor Karla erhob sich nun ein weißes Holztor. Dummerweise
musste sie zum Zweck der Passierbarkeit des Weges und der Toröffnung ihr Fahrzeug verlassen und erst einmal kinderkopfgroße Brocken leise keuchend von der Fahrbahn an die Seite räumen.
Das Ganze untermalt von den Pfiffen der beiden Lohnsklaven und scharf und misstrauisch von einem kleinen, älteren und drahtigen Mann mit verwitterten Gesichtszügen beobachtet.
Freundlich aber schweißbedeckt grüßte Karla in die Runde und verfrachtete sich und ihr Gefährt in den langgestreckten Innenhof ihrer Urlaubsimmobilie. Tor zu, Auto auf. Misstrauisch blickte Karla sich um, und entdeckte noch mehr Gründe, warum sie lieber mit Paul hätte fahren sollen.
Von dem gekiesten Innenhof aus führten zwei steile Treppen hinauf zum lang gestreckten Haus, das umgeben von weiträumigen Terrassen, sich eng an den Hang schmiegte.
Schon jetzt überfordert, wandte Karla den Mördertreppen den Rücken und betrachtete neugierig die restliche Umgebung.
In Terrassen abfallend- genau wie in Pauls Schilderung - erstreckte sich die Landschaft mit ihren grünen Pinien und rosafarbenen Hausdächern vor ihr, in der Ferne das blaue Meer.
Rechts Antibes, vor Hitze flirrend mittig die belebte Küste von Nizza, links dehnte sich Landschaft und Meer in Richtung Menton und Monaco.
Es gibt eindeutig Schlimmeres sagte sich Karla, wischte sich die Schweißperlen von der Oberlippe und fächelte sich Luft
ins erhitze Gesicht. Sie drehte sich weiter, so dass das weiße Tor sich nun in ihrem Rücken befand.
Vor ihr ein riesiges vergammeltes Glashaus mit hellem Blechgaragentor, das auch eine bewegte Vergangenheit gehabt haben musste, wie die mannigfaltigen Beulen und rostigen Kratzer anschaulich bewiesen. Mühsam schob sie das Blechding nach oben. Im Inneren spannten sich Netze unter den verdreckten Lamellen der Glasdecke und hingen im Dämmerlicht - von Vogelschiss und Blättern bedeckt - bis auf den Kiesboden.
Hier drinnen stapelte sich anscheinend alles, was im Haus keinen
Platz mehr gefunden hatte.
Links vom Eingang, mit Matten abgeteilt, eine " Werkecke" mit Werkbank und Werkzeugen. Sie entdeckte Badematratzen, Gummitiere, Fahrräder, einen Karton mit einem neuen Gartengrill, überall zwischen den willkürlich abgestellten oder gelagerten Schätzen wuchs Unkraut, strebten Agaven, riesige Ackerschachtelhalme und anderes Grün spargelartig und unerschrocken in die Höhe.
In der hintersten Ecke bot ein Holzhaus einen Wildwestappeal in den Seealpen Südfrankreichs.
Der Schlüssel steckte wie versprochen im Schloss. Karla kramte unter dem Kopfkissen des Doppelbettes nach dem Hausschlüssel des Haupthauses.
In dem Blockhaus empfand sie die Hitze noch stärker und stickiger als auf dem sonnendurchglühten Innenhof. Sie gratulierte sich auf jeden Fall heftig dazu, nicht in diesem Holzmonster schlafen zu müssen. Raus, bloß raus hieß die Devise und wenn die Besitzerin den Schlüssel stecken lassen wollte, war das sicher nicht ihre Baustelle.
" Hallo...!" Eine leise, unsichere Stimme riss Karla aus ihren Betrachtungen. Unter dem Garagentor zögerte eine weibliche Gestalt. Hellblaues T-Shirt und blaue Shorts, hellblonde schulterlange Haare, ein leicht gerötetes ovales Gesicht. Blaugraue Augen blickten vage zu ihr auf.
" Ich habe gesehen, Sie kommen aus Köln. Wir auch.
Ich heiße Hanne. Wir sind vor ein paar Tagen angekommen,
schön ist es hier, nicht wahr?"
Karla schaute enerviert auf die Unbekannte. Jetzt leichte Konversation war das Letzte was sie wollte. Vor allem worüber bloß? Wie war diese Person nur hereingekommen?
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