Andre Brink - Kupidos Chronik

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In seinem neuen Roman begibt sich Südafrikas großer Chronist André Brink auf die Spur des ersten schwarzen Missionars des Landes. Die rasante Lebensgeschichte des Kupido Kakkerlak vereint erzählerische Kraft und magischen Realismus afrikanischer Prägung. «Kupidos Chronik» ist ein eindringliches Buch über einen Mann auf der Suche nach seinen Wurzeln, über eine unverwechselbare Landschaft, in der Wunder immer noch möglich erscheinen – und über eine Gesellschaft, in der schwarze Menschen wie Vieh behandelt werden. AUTORENPORTRÄT André Brink, 1935 in Vrede im Oranje-Freistaat geboren, gehörte zu den Schlüsselfiguren im Kampf weißer südafrikanischer Autoren gegen die Apartheid. Seine Romane wurden in 30 Sprachen übersetzt. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet. Im Osburg Verlag erschien 2008 der Roman «Die andere Seite der Stille».

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André Brink

Kupidos Chronik

Aus dem Englischen von

Inge Leipold

Saga

Der Name Hottentotte wird dem Vergessen anheimfallen oder als der Name einer Person minderer Bedeutung in die Erinnerung eingehen.

John Barrow, Travels into the Interior of Southern Africa (1806)

Die Ungläubigen bedürfen der Gläubigen. Sie verzehren sich nach einem, der glaubt [ ... ]. Unsere Aufgabe in dieser Welt ist es, zu glauben, was niemand sonst für ernst nimmt. Wollte die menschliche Rasse derlei Glauben vollkommen entsagen, sie stürbe aus. Dafür sind wir da. Eine winzige Minderheit. Um alten Glauben mit Leben zu erfüllen. Teufel und Engel, Himmel und Hölle. Gäben wir nicht vor, an all dies zu glauben, die Welt bräche in sich zusammen.

Don DeLillo, White Noise (1984)

Erasmus drängt zu der Frage: Kann ein Mensch beschließen, verrückt zu sein? Doch es gibt noch eine andere, nicht minder wichtige Frage: Kann ein Mensch beschließen, nicht verrückt zu sein?

Philip Edge, A Fool in his Wisdom (1992)

Kupidos Chronik

ist meinen Lesern gewidmet ohne die ich kein Schriftsteller wäre

I

1. Eine Art Geburt

Kupido Kakerlak kroch nicht auf die übliche Weise aus dem Mutterleib, sondern schlüpfte aus den Geschichten, die sie erzählte. Vielerlei Gestalt nahmen sie an, diese Geschichten. In einer hieß es, seine Mutter sei Jungfrau und riemendünn, und niemand habe auch nur geahnt, dass sie schwanger war. Bis der kleine Kümmerling da war. Ein andermal sagte man, sie sei seltsam lange recht deutlich schwanger gewesen, habe einen richtig dicken Bauch gehabt, drei oder vier Jahre lang, ehe dann der Berg eine Maus gebar. Je nachdem, wie sie gelaunt war und in welcher Phase der Mond gerade stand, behauptete sie, es sei gar nicht ihr Kind, sondern einfach von einem Fremden, der zufällig des Nachts vorbeigekommen sei und dessen Gesicht sie nie gesehen habe, in ihrer Hütte abgelegt worden, gleich nach der Geburt; die Nachgeburt habe noch an der Nabelschnur gehangen. (Nur eines konnte sie mit Gewissheit sagen: Anders als sie, eine Kontraktarbeiterin, war er ein ›freier Mann‹, konnte kommen und gehen, wie es ihm beliebte, gerade so wie der Wind.) Von da war es nur einer kleiner Schritt zu der Behauptung, der Fremde sei gar kein Mensch gewesen, sondern ein Nachtwandler, einer der sobo khoin , der ›Menschen aus dem Reich der Schatten‹, die den Lebenden nachstellen. Oder ein Gespenst aus einem Traum. Vielen, die ihr zuhörten, war die Darstellung am liebsten, Kupido sei ein Zwilling gewesen, offensichtlich der schwächere, und deshalb sei er gemäß der uralten Sitte der Khoikhoin (oder, wie man sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als all dies geschah, gemeinhin nannte, der Hottentotten) einfach im Busch ausgesetzt worden. Irgendwann sei dann, so erzählte man, ein Adler, ein herrlicher Bateleur von den fernen Bergen, auch Gaukler genannt, vom Himmel herabgestoßen, habe mit den Krallen den kaum sich regenden Säugling gepackt und ihn dann auf die Art, wie solche Vögel eine Schildkröte töten, weit, weit weg von hier, in den gottverlassenen nördlichen Regionen der Großen Karru, Koup genannt, wo Entfernungen jegliche Bedeutung verlieren und alles zu unermesslichem Raum wird, verloren oder fallen lassen. Der Säugling sei im Schoß der Frau, die dort auf freiem Feld schlief, gelandet; als sie aufwachte, sei das Kind da und das ihre gewesen.

Was seinen Namen, ›Kupido‹, angeht, so war dies ein recht gebräuchlicher Name, mit dem Sklaven und Eingeborene von ihren weißen Herren gerufen wurden. ›Kakkerlak‹, Kakerlake also, ist schon etwas zweifelhafter. Wie wir wissen, gibt es bis zum heutigen Tag ein Kakkerlaksvlei (oder Kakerlakental) in der Provinz Ostkap, nicht weit vom heutigen Port Elizabeth, wo Kupido seine mittlere Lebenszeit verbrachte, aber das war vielleicht weder hier noch dort. Eher wurde die Gegend nach ihm benannt als umgekehrt.

Es gibt eine einleuchtendere Erklärung für seine Geburt (oder sein wundersames Auftauchen, je nachdem, wie man es sehen will): Man könnte – wenn auch nicht mit allzu großer Gewissheit – sagen, dass es um das Jahr 1760 geschah. Laut dieser Darstellung hatte seine Mutter sich einfach, ohne um Erlaubnis zu fragen, einen Tag von der Feldarbeit freigenommen. Sie war eine gewöhnliche Frau vom Stamm der Hottentotten, faul und dreckig wie die alle (das hätte der Farmer gewiss bezeugt), doch ohne Arg oder Tücke. Ihr Baas hatte sie Jahre zuvor in Namaqualand gefunden; dorthin war er mit ein paar Nachbarn auf der Jagd nach Wild und Arbeitern aufgebrochen. Unterwegs hatte der Trupp diese Beute gemacht:

elf Löwen

zweiundvierzig Elefanten

sieben Flusspferde

achtundneunzig Springböcke

dreiundzwanzig Kuhantilopen

zwei Nashörner

siebzehn Zebras

einunddreißig Gnus

eine einzige Giraffe (ein seltenes Tier, fast so unwahrscheinlich wie ein Einhorn)

und acht Buschmänner

Man fing etliche Buschmannkinder ein, schlang ihnen einen langen riem um den Hals, der am Pferd des Anführers der Farmer festgebunden wurde, und nahm sie mit, um sie als Feldarbeiter und Wagenführer abzurichten. Auf dem Rückweg, landeinwärts in einiger Entfernung von Saldanha Bay, kreisten die Farmer außerdem eine kleine Horde marodierender Hottentotten ein und überzeugten sie auf die eine oder andere Weise, mit ihnen ins Koup zu kommen, um sie dort als Lohnarbeiter an sich zu binden. Wie sich herausstellte, war die Frau eine Unruhestifterin, da sie die unglückselige Neigung hatte, sich davonzumachen. Das bedeutete, man musste wertvolle Zeit darauf verwenden, sie wieder einzufangen, zurückzubringen und gebührend zu bestrafen, wie das Wort Gottes es verlangte. Für den Farmer war es recht peinvoll (und er fügte, das muss gesagt werden, auch große Pein zu), ihr ein Gefühl dafür einzuimpfen, dass sie eine Kontraktarbeiterin war. Am Ende trug seine Beharrlichkeit, so schien es, Früchte, da sie offenbar zu gegebener Zeit ihre anfängliche Unwilligkeit und Verweigerung wie eine alte Haut ablegte und fügsamer wurde. Schließlich fand sie sich wohl damit ab, dass sie für den Rest ihres Lebens an diese Farm gekettet bleiben würde. Und es war ja auch genügend Platz dort, selbst für jemanden, dessen Stamm es gewohnt war, mit den Jahreszeiten und im Gefolge von Wild, frischen Regengüssen, den Sternen und dem Wind durch das weite Land zu streifen.

Die Farm war riesig und erstreckte sich von dem kleinen Haus aus Stein in der Mitte in alle Richtungen, so weit das Auge reichte: Zu Anbeginn der Zeit hatte der Farmer selbst an einem schier nie endenden Mittsommertag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem Pferderücken den Grund abgesteckt. Es gab also eigentlich für niemanden einen Grund, sich eingesperrt zu fühlen. Und im Lauf der Zeit hatte die Frau offenbar gelernt, sich zu fügen. Vielleicht hatte sie auch einfach nicht mehr genügend Willenskraft, um aufzubegehren. Umso mehr Grund zur Beunruhigung hatte der Farmer, als sie an jenem Tag nicht auf den Bohnenfeldern auftauchte.

Mit seiner brandneuen Reitpeitsche aus Nilpferdleder erschien er vor ihrer Hütte, um sich zu erkundigen, warum sie nicht erschienen war, und ihr auf seine bewährte Art zuzureden, sich wieder an die Arbeit zu machen. Angesichts des armseligen, verschrumpelten kleinen Wesens auf dem Schoß der Frau, die inmitten von Tränken und Speisen, die all die Nachbarn ihr dargebracht hatten, dasaß, schluckte er seinen Ärger hinunter; da es ihm nun verwehrt war, die prächtige Peitsche einzuweihen, blieb ihm – denn er war ein gerechter Mann – nichts anderes übrig, als vor sich hin zu murren: »Diese gottverdammten Kaffern vermehren sich wie verfluchte Kakerlaken, anscheinend zieht der Geruch von Essen sie an.«

Daraufhin drehte er sich auf dem Absatz um und trollte sich, wobei er verdrossen mit der jungfräulichen Peitsche auf seine Hosenbeine aus Moleskin schlug. Hinter ihm und ohne dass er etwas davon merkte, wimmerte der Säugling, zitterte, verfiel in einen lautlosen Krampf und starb.

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