»Ist gut, Ma.«
Aber es ist dunkel, und sie kann nicht sehen, wie er den Stern wieder loswird.
Ein anderes Bild, das an ihren Augen vorbeizog, war wahrscheinlich aus sehr ferner Zukunft gekommen, denn darauf sah sie ihr Kind als verschrumpelten alten Mann, der sich durch eine leere, ausgedörrte Landschaft schleppt. Er wedelt mit den Armen, auf und ab, auf und ab. Und sie sieht, wie aus seinen langen, spindeldürren Armen Federn sprießen, lange Federn, braune, und andere, weiß gestreifte wie die des Gauklers, und vor ihren Augen hebt er vom Boden ab und fängt an zu fliegen, fliegt höher als der Wind. Und auf irgendeine unerklärliche Weise war sie neben ihm und sah alles, was er sah, unbekannte Flüsse und Bergketten, die unter ihnen vorbeizogen, ferne Länder und Orte, die von seltsamen Menschen und Tieren bevölkert waren. Sie sah fliegende Elefanten und Trappen mit Rhinozeroshörnern und Leute, denen der Kopf aus der Brust wuchs, und hochgewachsene Frauen mit riesigen funkelnden Diamanten an ihren großen Zehen. Sie sah Dinge, die sie nie für möglich gehalten hätte: einen Löwen und ein Schaf, die friedlich nebeneinander lagen, eine Kuhantilope, die eine Gans säugte, einen Leoparden, der ein paar Küken hütete, eine Elenantilope und eine Gottesanbeterin, die sich paarten.
Zuerst ängstigte sie, was sie sah. Doch schnell beschloss sie, sich dem zu überlassen und keine Fragen zu stellen. Nur einer Sache war sie gewiss – dieses ihr Kind war etwas Besonderes. Was vor ihm lag, hätte nicht ein Einziger ihrer Vorfahren erahnen können.
All das sah sie des Nachts; sie konnte nichts als seufzen. Und versuchen, nicht mehr nachzudenken. Was auch immer geschehen sollte, würde geschehen. Sie schob ihre Brustwarze wieder in den Mund des Säuglings. Während er nuckelte, sprach sie weiter. Gut möglich, dass Leute, die draußen vorbeigingen, stehen blieben, um den Stimmen zu lauschen. Denn bei dieser Frau konnte man nie sicher sein, ob sie Besuch hatte oder mit verschiedenen Stimmen zu sich selber sprach; und hätte man sich die Mühe gemacht zu fragen, hätte man wohl kaum gewusst, was man von der Antwort halten sollte. »Das war Heitsi-Eibib«, hätte sie vielleicht gesagt. »Er ist gekommen, um seinen Sohn zu besuchen.« In einer solchen Nacht konnte man deutlich den tiefen Bass einer Männerstimme erkennen. Genauso gut hätte es aber auch ein Fremder sein können, einer wie der Wanderer, der vor neun Monaten hier verweilt und seinen Samen in ihren Leib gesät hatte. Oder sogar der Adler, der ihn gebracht hatte. Wenn derlei Dinge geschahen, glaubten viele, die Welt sei immer noch so, wie sie in der Zeit vor aller Zeit gewesen war, als alles sprechen konnte: Mensch und Affe, Maus und Gottesanbeterin, Adler und Schlange und Steine, so wie Heitsi-Eibib sie nach dem Gebot Tsui-Goabs gemacht hatte.
»Und was hat Heitsi-Eibib gesagt?«, fragte einer vielleicht.
»Er hat gesagt, dieses Kind muss mit viel Umsicht aufgezogen werden, denn es wird ein großer Mann werden.«
»Schwer zu glauben, wenn man ihn so sieht. Hat er doch kaum die Größe einer Kakerlake.«
»Das stimmt.« Noch ein Seufzer. »Aber vergiss nicht, am Anfang hat Heitsi-Eibib auch nicht anders ausgesehen. Es steht uns nicht zu, daran zu zweifeln oder darüber zu spotten.« Unbeirrt, gelassen deckte sie dann den erbärmlichen kleinen Gnom wieder zu und erklärte: »Es ist Zeit für dich, zu gehen. Ich erwarte Gäste.«
Dann warfen die Leute einander vielsagende Blicke zu und schickten sich zum Gehen an. Ein paar lungerten vielleicht noch eine Weile draußen herum. Und drinnen fingen mit Sicherheit wieder die Stimmen an.
4. Federn für einen Adler
Mit diesen Stimmen wird Kupido Kakerlak aufwachsen. Denn seine Mutter behält ihn immer bei sich, aus Furcht, ihm könnte etwas geschehen. Bei einem so zerbrechlichen kleinen Ding kann man nie wissen ... Wenn einer ihm im Vorbeigehen einen Schubs gäbe, was würde dann mit ihm geschehen?
Meistens nimmt sie ihn mit zum Haus des Farmers, wo sie jetzt, nach Jahren der Arbeit zusammen mit den anderen auf den Feldern, Dienstmagd ist. Hier kann er ihr von klein auf beim Fegen und Staubwischen, bei der Wäsche, beim Leeren der Nachttöpfe, beim Bespritzen der Böden mit Spülwasser, damit der Staub sich setzt, bei der Jagd auf Fliegen mit Hilfe eines belaubten Zweigs, beim Verscheuchen der Hühner und Moschusenten und beim Sammeln von Holz für den großen Herd in der Küche zur Hand gehen.
Manchmal, wenn vor Sonnenuntergang noch zu viel zu tun ist, schlafen er und seine Mutter in der Küche, in der hintersten Ecke beim Herd, wo noch Wärme hockt wie ein großer fauler Hund. An diesen Abenden müssen sie beim Beten dabei sein, das auf das einfache Mahl – Brot und Milch, ein Schöpflöffelvoll Kürbis oder Süßkartoffeln, gelegentlich ein winziges Stück Fleisch –, von dem ihnen die Reste zustehen, folgt. Mit diesem Ritual weiß Kupido nichts Rechtes anzufangen. Er versteht nur, dass es irgendwie etwas mit den Göttern zu tun hat. Dann muss seine Mutter es ihm erklären, obgleich auch sie mehr oder weniger im Dunkeln tappt. So viel wird ihm klar: Dieser Jesus, von dem der Baas spricht, muss mit Heitsi-Eibib verwandt sein, denn auch er ist gestorben und wieder zum Leben erweckt worden. In Kupidos Ohren klingt das gotteslästerlich. Bestimmt würde Heitsi-Eibib den Eindringling, wenn er ihm auf dem freien Feld begegnete, durch einen Hieb mit einem Feuerstein töten.
Was ihm dabei gefällt, ist das Singen, das die Reden des Baas begleitet. Für Kupido ist Singen wie Regen an einem heißen Tag. Allen Versuchen seiner Mutter, ihn davon abzuhalten, zum Trotz stimmt Kupido in dem Augenblick, wenn der Baas, seine Frau und ihre sieben Kinder zu singen anfangen, mit ein, so laut er nur kann, und singt nach einer eigenen Melodie und eigenen Worten, die er von seiner Mutter gelernt hat:
O Heitsi-Eibib
Du, unser Großvater
Bring mir Glück
Bring mir Wild
Lass mich Wurzeln und Honig finden
Damit ich dich wieder anrufen kann
Dich, der du unser Urgroßvater bist
O Heitsi-Eibib!
Seine Stimme übertönt alle anderen, hell und klar wie eine Rohrflöte, eine Stimme, viel zu groß für den kleinen, spindeldürren Körper. Nach einiger Zeit muss der Baas ihm sagen, dass er den Mund halten soll, denn er stört ihr Einswerden mit Gott. Dann schweigt er still und hebt sich sein Singen für später auf, wenn er wieder mit seiner Mutter allein ist oder durch den Busch streift, weiter noch als bis zu all den vertrauten Felsen und Hügel und Ebenen, dorthin, wo die Welt noch ganz leer ist und darauf wartet, dass ein Wort sich mit seinem Schatten oder seinem Gewicht auf sie legt.
Noch etwas mag er an diesen Betstunden. Die Tatsache, dass der Mann, der als Vater von Baas Jesus eingesprungen ist, ein Zimmermann war. Denn von dieser Beschäftigung ist er regelrecht besessen, so wie man die Augen nicht vom grellen Schein brennender Kohle, die man anstarrt, wenden kann. Wo immer auf der Farm es etwas zu tischlern gibt, findet er sich mit Sicherheit ein. Der Geruch von Sägespänen verdreht ihm den Kopf, gerade so wie das Karie -Bier, von dem er manchmal, wenn die Arbeiter in Neumond- oder Vollmondnächten im Hof tanzen, heimlich den Bodensatz schlürft. Es genügt, dass er ein Stück Holz in seiner Hand fühlt, seiner Glätte oder Maserung nachspürt, und schon fängt er an zu träumen, zu was es wohl werden mag – dies leicht gebogene Stück wird bestimmt ein Stuhlbein, die zwei dicken Bretter da taugen nicht zu einer Tischplatte, aus diesem in den Hinterhof geworfenen Hartholzstumpf wird sicher die Nabe eines Wagenrads, das auch noch dem holprigsten Boden standhält. Nur selten erlaubt der Baas ihm, bei den Tischlerarbeiten zu helfen, doch das hindert ihn nicht daran, wie verzaubert zuzusehen und alles in den innersten Falten seines Denkens zu horten.
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