„Meine Antriebskraft war vor langer Zeit einmal meine kindliche Freude und Liebe gewesen, doch als sie mir das alles nahmen, entdeckte ich etwas anderes in mir: Zorn. Abgrundtiefen, bitteren Zorn und all diese dunklen Gefühle, die bleiben, wenn die guten sich verabschiedet haben: Wut, Hass, Abscheu und so viele mehr. Irgendwann jedoch kam ich an einen Punkt, an dem ich bereit war, aufzugeben und in irgendeiner Ecke vor mich hin zu verrotten. Mein Wille hielt mich zum Glück auf und ich erinnerte mich daran, dass, sollte ich jetzt aufgeben, sie für immer gewonnen hätten. Und da sind wir bei der Frage, was ich eigentlich will. Die Antwort ist einfach: Rache. Ich will Rache an jedem Einzelnen von ihnen üben und so arbeite ich mich vor. Angefangen bei den kleinen Fischen bis hin zum großen Hai. Ich werde sie allesamt umbringen.“
Die Wut war wieder in ihr und ihre Augen glühten, als sie das Mädchen an den Schultern packte. „Ich weiß, du stehst ganz kurz davor, aber wenn du jetzt aufgibst, kriegen sie das, was sie wollen: eine weitere hoffnungslos gehorsame Seele, die sie zu allem zwingen können, was ihnen so in ihren schmutzigen Sinn kommt. Ich lasse nicht zu, dass sie weiterhin gewinnen!“
Ihr Bauch hatte recht. Das Mädchen hatte nur einen Hoffnungsschimmer gebraucht, eine Person, die das Gleiche wie sie hatte durchmachen müssen und daraus Stärke geschöpft hatte. Jemanden, der ihr Leiden beendete. „Ich hole dich hier raus – und zwar sofort. Für heute ist Sergio mein Ziel, der Veranstalter dieser schicken Party. Arian ist eigentlich nur ein kleines Rädchen im Getriebe, aber keine Sorge: Für das, was er dir getan hat, werde ich ihn auch bestrafen. Ich beende, weswegen ich hier bin, und dann kommst du erst mal mit zu mir. Oder hast du einen Ort zum Schlafen?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Ich kümmere mich um dich. Versprochen.“
Hoffnung legte sich in die Züge der jungen Frau und vor Erleichterung fiel sie Olivia um den Hals.
„Muchas gracias, mi salvadora“, flüsterte sie ihr ins Ohr. Meine Retterin. Sie lösten sich voneinander.
„Ich sage dir jetzt, wie es laufen wird, okay?“ Das Mädchen nickte. Olivia weihte sie in ihren Plan ein, dann verließen sie die Toilette, vor deren Tür sich bereits eine erhebliche Schlange gebildet hatte, und das Spiel ging weiter.
Der Wind blies ihr eine Haarsträhne aus dem unschuldig lächelnden Gesicht. Sie war eine grandiose Schauspielerin. Die Freundlichkeit wirkte täuschend echt, doch sie war nur eine aufgesetzte Maske, hinter der sie ihr wahres Wesen verbarg. Die Wut, der Hass und die Abscheu färbten normalerweise ihre Miene beim Anblick von Leuten des Kartells. Jedoch hatte sie gelernt, ihre Gefühle zurückzuhalten und stattdessen ihren Verstand einzusetzen, was ihren Rachefeldzug bisher auch so erfolgreich gemacht hatte.
Wie ein Idiot hing er an ihren Lippen und die kranken Gedanken, die sich gerade in seinem Kopf überschlugen, konnte sie ihm von der Nasenspitze ablesen. Ohne weitere Umschweife trat sie näher an Arian, der sich freute wie ein kleines Lamm, das die ganze Zeit gefüttert wurde, jedoch nicht wusste, dass es bald zur Schlachtbank geführt werden würde. Nachdem sie wieder am Tisch angekommen war, hatte Argus sie skeptisch betrachtet. Natürlich war Olivia bewusst gewesen, dass das Mädchen und sie unnormal lange auf der Toilette gebraucht hatten, und so hatte sie die nicht gestellte Frage beantwortet. „Entschuldigung, dass das so lange gedauert hat, aber ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was für eine lange Schlange vor der Toilette war!“ Eine wegwerfende Handbewegung unterstrich die Glaubwürdigkeit ihrer Worte.
„Können wir los?“, wandte Olivia sich nun zuckersüß an Arian. Daraufhin nickte er energisch.
„Euch beide sehe ich dann später.“ Sie verabschiedete sich höflich von dem Mädchen und Argus, obwohl er genauso gut wie sie wusste, dass sie das nicht tun würden.
Olivia hakte sich bei Arian unter und flüsterte ihm etwas Verführerisches ins Ohr, woraufhin er überrascht errötete und dann erneut eifrig mit dem Kopf wackelte. Lediglich eine winzige Planänderung hatte sie insgeheim vorgenommen.
Obszön lachte er und ließ den überdimensionalen Sturm in ihr, den sie zurückhielt, nur noch weiter anwachsen und aufbrausen. Mit ihr an seinem Arm durchquerte er einen Nebengang, mehrere Zimmer und gelangte schließlich auf die andere, die ruhigere Seite des Schiffs. Unwissend hatte er sich in seine Falle geführt, die nun gnadenlos zuschnappte. Kaum waren sie alleine, wollte der Dreckskerl sie küssen. Rasch holte Olivia ein Messer aus ihrem Kleid hervor, drängte ihn gegen die lackierte Holzwand und drückte die Klinge an seinen überteuerten Anzug. Hastig schnappte er nach Luft und sah sie mit schockgeweiteten Augen an.
„So, du Mistkerl.“ In Sekundenschnelle ließ sie die nette Fassade fallen und rammte ihm die Klinge tiefer in die Kleidung, durchtrennte den Stoff und schnitt ihm in die schwitzende Haut.
Während er japste, fuhr sie fort. „Du wirst mir jetzt schön sagen, wo sich Sergio befindet.“
Ungeduldig blickte sie in sein ängstliches Angesicht. Was für ein schwaches Schaf, dachte sie.
„Ich habe Geld …“, bot er ihr mit zitternder Stimme an, doch das war nicht, was sie hören wollte. Wütend stach sie ihm die Klinge vollständig in den Bauch. Warm spürte sie das Blut aus der Wunde über ihre Hand sickern und fühlte seine Todesangst.
„Das war die falsche Antwort, Idiot. Ich frage dich jetzt noch ein letztes Mal: Wo ist Sergio?“
Panisch lenkte er ein und gab ihr endlich die gewünschte Antwort. „Am Ende der Jacht, Zimmer 23 … Aber du wirst nicht an ihn rankommen, er ist gut bewacht …“
Olivia unterbrach ihn. „Lass das mal mein Problem sein.“
„Kann ich jetzt gehen?“, fragte er erbärmlich hoffnungsvoll.
„Natürlich.“ Sie drehte das Messer in seinem Bauch um. Gelähmt vom Schmerz stierte er sie an. „Aber vorher zahlst du den Preis für deine Verbrechen, Dreckskerl!“
Der Sturm in ihr wütete unermüdlich und mit all der Wut, dem Schmerz und dem Verlangen nach Rache, aus denen er bestand. Olivia zog die Klinge aus ihm heraus und stach sie ihm mit Wucht und Elan, Hass und Zorn in sein heftig pochendes Herz. Das sprudelnde Blut färbte sein weißes Hemd rubinrot und lief in Schlieren an seinem Anzug hinunter. Dann erlosch das Licht hinter seinen Augen und Kälte blieb zurück. Da sie auf ihr eigentliches Ziel bedacht war, genoss sie den Moment nicht, sondern zog das Messer aus seinem Leichnam, hob ihn an und kippte ihn achtlos über die Reling. Die Leiche sank auf den Hafengrund und würde vorerst dort verweilen.
Das war die Strafe für seine Taten.
Olivia schickte dem Mädchen, dem sie in der Toilette ihr Zweithandy ausgehändigt hatte, eine Nachricht, dann säuberte sie die blutverschmierte Klinge und ihre Haut mit einem weißen Stofftuch, welches sie bei sich trug. Ursprünglich hatte es ihrem Vater gehört, der davon aber genug besaß, sodass er ein Exemplar nicht vermissen würde.
Nachdem die Fasern des Stoffes alles Blut vom Messer aufgesaugt hatten, steckte sie die Waffe wieder in die eingenähte Tasche in ihrem Kleid. Das blutbefleckte Tuch ließ sie hinter die Reling fallen und beobachtete, wie es langsam auf die Wasseroberfläche segelte, um dann das Flusswasser in sich aufzunehmen und auf den Grund gesogen zu werden.
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