„Vielen Dank.“
Dumm, wie er ist, habe ich ihn um den kleinen Finger gewickelt, dachte sie bei sich, so wird es ein Kinderspiel, zu Sergio zu gelangen.
Doch da war ja noch etwas anderes, worum sie sich heute Abend kümmern wollte.
„Aber bevor Sie das tun, muss ich noch mal wohin.“ Olivia wandte sich schon zum Gehen, tat dann aber so, als ob ihr einfiele, dass sie ja gar keine Ahnung hatte, wie sie zu den Toiletten gelangte. Sie bat daraufhin das Mädchen um Hilfe: „Könnten Sie mir vielleicht den Weg zu den Toiletten zeigen?“
Für einen kurzen Moment wirkte die junge Frau erleichtert, blickte dann aber fragend zu Arian. Erst als dieser nickend sein Einverständnis gab, setzte sie sich langsam in Bewegung. Kurzerhand beugte Olivia sich zu ihm vor: „Ich bin gleich wieder da, mein Lieber. Lauf bloß nicht weg!“ Als er gefesselt von ihrem Aussehen nickte, schmunzelte sie.
Dann folgte sie dem Mädchen bis zu den Toiletten. Kein einziges Wort kam währenddessen über deren Lippen. Sie bewahrte Stillschweigen wie ein Totengräber. Wahrscheinlich war es ihr vom Kartell so eingetrichtert worden. Mädchen, die von Kartellmitgliedern ausgebeutet wurden, durften nur dann reden, wenn es ihnen ihr „Herr“ erlaubte. Von dieser Erinnerung wurde Olivia schlecht.
Als das stumme Mädchen gerade die Toilettentür öffnen wollte, wurde diese aufgestoßen und drei lachende Mädels stolperten heraus. Randvoll. Das Mädchen erschrak sichtlich und fiel nach hinten, doch Olivias gute Reflexe griffen sofort und sie fing sie mit Leichtigkeit auf. „Vorsicht. Nicht, dass du dich verletzt.“
Die betrunkenen Mädels schienen sie nicht einmal bemerkt zu haben und gingen glucksend weiter. Nachdem sie ihr aufgeholfen hatte, schob Olivia die junge Frau durch die Tür und schloss sicherheitshalber hinter ihnen ab. Kaum bemerkte das Mädchen, dass Olivia den Ausgang verriegelt hatte, begannen sich ihre Augen vor Angst zu weiten und sie wirkte noch zerbrechlicher als ohnehin schon. Ihre Furcht schlug jedoch innerhalb von Sekunden in Panik um und sie drängte sich in die hinterste Ecke des winzigen Raumes.
Ängstlich schluchzte sie: „Bitte, tu mir nichts, bitte … Was Arian mit mir gemacht hat, war schlimm genug … Ich will nicht, dass auch du mir wehtust, bitte, ich schaffe das nicht mehr ...“
Ihre Stimme klang genauso fragil, wie ihr mentaler Zustand es wohl sein musste, und der bereits erlebte Schmerz spiegelte sich in ihren wässrigen, grünen Augen wider. Sie erinnerte Olivia an sich selbst, an eine Zeit, in der sie alles dafür getan hätte, dass es aufhörte, dass der brennende Schmerz von ihr abließ. Ihr Entschluss war nun Teil ihres eisernen Willens geworden: Sie würde dieses Mädchen hier rausholen.
Zunächst beruhigte sie sie aber: „Ich werde dir nichts tun. Glaub mir, man kann es zwar unterschiedlich betrachten, aber in dieser Sache gehöre ich zu den Guten. Ich verspreche dir, ich werde dafür sorgen, dass niemand je wieder seine dreckigen Finger auf dich legt und dir Schmerzen zufügt, die kein Mädchen je erleben sollte. Ich schaffe dich hier raus, weg von dem Kartell und diesen Verbrechern. Du hast mein Wort. Heute wird dein Leid aufhören.“ Olivia wusste jedoch, ohne das Vertrauen des Mädchens war dieses Unterfangen unmöglich, deshalb musste sie ihr beweisen, dass ihre Absichten ernst gemeint waren. Schließlich tat sie etwas, was sie sich seit einer Ewigkeit nicht getraut hatte: Bewusst holte sie eine Erinnerung an ihre Vergangenheit hervor.
So weit zurück dieser Moment auch liegen mochte, der Schmerz, den er brachte, war nah und echt.
„Ich weiß genau, wie es sich anfühlt.“
Erstaunt sah das Mädchen sie an.
„Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn er deine Beine auseinanderdrückt und mit seinen Händen über Stellen fährt, die er nicht einmal hätte sehen dürfen. Wie er dich mit seinem dreckigen Grinsen im Gesicht betrachtet, als wärst du ein neues Auto, das er sich gekauft hat, irgendein lebloses Objekt.“
Abscheu färbte ihre Worte.
„Der Schmerz, den du dabei empfindest, während der perfide Arsch seinen Spaß hat, ist ihm nicht nur egal, sondern bereitet ihm eine befriedigende Freude und egal, wie sehr du dich wehrst, egal, wie sehr du schreist und um dich schlägst, er ist stärker.“
Die nächsten Worte konnte sie nur hauchen, so sehr war sie in der Erinnerung gefangen: „Du bist ihm machtlos ausgeliefert.“
Sie konnte es nicht verhindern, dass Tränen in ihr aufstiegen und ihr Sichtfeld trübten.
„Ich habe mich noch nie im Leben so hilflos gefühlt.
Ihm war es egal, dass ich geschrien habe, er solle aufhören, dass ich ihn angefleht habe, er solle endlich aufhören – er hat weitergemacht.
Dinge mit mir gemacht, die nicht nur qualvoll, sondern auch verabscheuenswert waren.
Er hat mich behandelt wie ein Objekt …, doch ich bin ein lebendes, atmendes Wesen, das alles gefühlt hat!
Die Pein, den Schmerz, die Trauer …, die Hoffnungslosigkeit, die Hilflosigkeit – ich habe jedes einzelne gespürt!“
Nachdem Olivia die Tränen weggeblinzelt hatte, bemerkte sie, dass das Mädchen nicht länger verängstigt in der Ecke kauerte, sondern vor ihr stand. Dadurch, dass Olivia ihr diesen privaten, sie verletzbar machenden Teil ihrer Selbst, und das war nur ein kleiner von so vielen weiteren, offenbart hatte, hatte sie sich ein Stück ihres Vertrauens erarbeitet. Langsam gewann sie ihre alte Stärke zurück. „Mir wurden Dinge angetan, die dein Vorstellungsvermögen bei Weitem überschreiten.“ Stille hüllte den Raum ein, dabei war sie nur die trügerische Ruhe vor dem Sturm.
„Ich bin Olivia Alvarez, die Tochter des Kartellbosses. Und vielleicht habe ich diesen Eindruck erweckt, aber ich bin nicht zum Reden hier …“ Verwirrt blinzelte das Mädchen. „… sondern zum Töten.“
Man kann nicht in die Leute hineinschauen. Man kann nicht sehen, ob sie gute oder böse Absichten besitzen, kann nicht sehen, auf was sie zielen oder wer sie sind. Das müssen sie einem schon selbst erzählen.
Olivia aber konnte bis zu einem gewissen Grad aus der Körpersprache und dem Verhalten der Menschen all das herauslesen. Jahrelanges Training und eine ausgeprägte Intuition waren ihr Schlüssel zu den noch so komplexesten menschlichen Schlössern. Jedoch besaß das verängstigte Mädchen, das bei ihren letzten Worten ein paar Schritte zurück gemacht hatte, diese Fähigkeit nicht.
Deswegen erzählte Olivia ihr: „Noch vor einigen Jahren dachte ich, ich würde nie da rauskommen.“
„Aus dem Kartell?“
Olivias Miene verhärtete sich. „Aus dem Kartell. Aus den Händen dieser Schwerverbrecher. Du bist nur eine Randfigur in ihrem riesigen System, doch ich war ganz tief drinnen. Ich habe die Kartellmauern von innen gesehen. Tag für Tag. Seit meiner Geburt. Ich wurde gequält, gefoltert, und alles, was mir einen Lebenssinn gab, wurde mir rücksichtslos entrissen.“
Olivia war bei klarem Verstand und so wusste sie, dass sie dieses Mädchen, das so viel Trauer in ihrem Blick trug und so viel Angst in sich, nicht kannte und sich hier absolut auf ihr Bauchgefühl verließ, welches ihr zuflüsterte, es sei definitiv richtig und kein Risiko, dem fremden Mädchen diese pikanten Informationen über sich anzuvertrauen. Immerhin befand sie sich in derselben oder zumindest einer ähnlichen Situation wie Olivia einst. Ihr Kopf dagegen hatte gleich zu Beginn des Gesprächs zu toben angefangen und sie gefragt, ob sie wirklich so gerne sterben würde, denn das ließe sich leicht einrichten. Schließlich quatsche sie mit dieser ihr völlig Unbekannten über ihre Vergangenheit und ihre Identität und gab ihr somit alle relevanten Informationen, um sie auf dem Silbertablett dem Kartell auszuliefern und ihren gesamten Rachefeldzug zu durchkreuzen. Doch Olivia hatte ihren Menschenverstand für diese eine Situation stummgeschaltet und fuhr nun ganz in Ruhe fort.
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