„Wer weiß? Vielleicht gibt es ja sogar eine Belohnung, wenn wir dich zurück zum Boss bringen. Was meinst du, Henry?“ Er drehte sich zu diesem um und die beiden grinsten sich an, während Henry Tylor zustimmte. Tylor wandte sich wieder Olivia zu und blickte ihr in die Augen, doch sie hielt ihm, stark wie sie war, stand. Unvorhergesehen jedoch durchschlugen seine folgenden Worte die Eismauer und ließen Olivia alles andere als kalt. „Dann kann ich endlich da weitermachen, wo ich letztes Mal mit dir aufgehört habe.“ Damit war Tylor zu weit gegangen!
Die Erinnerungen trafen sie unerwartet schmerzhaft. Sie entflammten den Hass in ihr so kraftvoll, dass er es gespürt haben musste. Das dreckige Grinsen schwand aus seinem Gesicht und instinktiv stolperte er mehrere Schritte nach hinten, als sie ihn mit tödlicher Miene fokussierte. Die Erinnerung war machtvoll wieder in ihr und versetzte sie in die Gefühle nach seiner Tat zurück. Die Hilflosigkeit, die Wut und besonders der Schmerz, der ihr Leben schon immer geprägt hatte, ließen das Feuer in ihren Adern sich unkontrolliert ausbreiten. Es fraß jeden Zweifel und jede Unsicherheit. Olivia öffnete und schloss ihre Hände zu Fäusten.
Plötzlich war sie jedoch wieder völlig entspannt, denn ihr Verstand hatte gerade eine geniale Idee hervorgebracht. „Also, ich bin wirklich enttäuscht, dass ihr mir so etwas zutraut.“ Demonstrativ legte sie eine Hand auf ihre Brust. Henry und Tylor tauschten einen verwirrten Blick aus. Nun hielt sie die Zügel dieser Unterhaltung wieder in ihrer Hand. „Ich brauche doch keinen Auftragskiller!“ Ihr Gesichtsausdruck war gefährlich erfreut. „Nein, wozu wurde ich denn ausgebildet? Ich habe ihnen natürlich persönlich die Kehlen aufgeschlitzt!“
Die Rekruten zuckten zusammen bei der Grausamkeit ihrer Worte und der Leichtigkeit, mit der sie ihr über die Lippen kamen. Henry und Tylor waren für wenige Augenblicke wie eingefroren.
Es war nur eine Kleinigkeit, doch sie bemerkte sie.
Eine Winzigkeit, die sich in ihrem Blick änderte.
Es war der erste Funke Wut und diese wollte sie bis aufs Äußerste ausreizen.
„Was ist los mit euch?“ Provozierend hob sie ihre Arme. „Wisst ihr, ich habe eine Liste angelegt. Auf der stehen die Namen aller Leute aus dem Kartell, die mir je etwas angetan haben. Doch das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit, die diese grauenhaften Menschen haben.“
Henry trat sichtlich wütend darüber, dass sie die Frechheit besaß, vor ihnen mit der Ermordung von hochrangigen Kartellmitgliedern zu prahlen, einen Schritt nach vorne. „Welche noch?“ Zorn lag in der Luft, genauso wie Neugierde. Olivia nahm beide mit Genugtuung wahr.
„Sie haben noch etwas gemeinsam.“ Ihre Augen schimmerten beinahe schwarz im kümmerlichen Licht der Mondsichel. „Sie werden alle noch vor Ende dieses Jahres … mausetot sein.“
Nun schäumten die vier Männer über. „Damit bist du zu weit gegangen, Olivia!“ Henry fackelte nicht lange und zog eine pechschwarze Pistole aus seiner Manteltasche. „Es ist mir egal, was der Boss sagen wird, du wirst den nächsten Morgen nicht mehr erleben!“
Tylor holte ebenfalls seine Waffe hervor. Zwei glänzende Schusswaffen lagen still und folgsam in den Griffen zweier Mitglieder eines der erfolgreichsten Kartelle Spaniens und warteten darauf, dass ihre Besitzer die unwiderrufliche Entscheidung trafen, sie zu benutzen. Alles Teil von Olivias Plan.
Das Adrenalin flutete sie, während sie ihnen entgegenschrie: „Ihr wollt mich?“ Die Antwort war ohne Zweifel in ihren Gesichtern zu erkennen. „Dann kommt und holt mich!“
Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte los, so schnell sie nur konnte. Zu schnell, als dass die Männer ihr freies Schussfeld auf sie rechtzeitig nutzen konnten. Die Hohlköpfe fühlten sich mit ihren Waffen in den Händen so sicher, dass sie ihr folgten, das war ihr bewusst. Olivia jagte vorbei an Tannen und über Wurzeln durch den nur vom Mondlicht erleuchteten Wald. Ihre Haare flatterten im heulenden Wind. Um in ihren hohen Schuhen nicht zu stolpern, musste sie sich unglaublich konzentrieren.
Als sie auf einer Lichtung weit weg vom Haus ankam, stoppte sie abrupt.
„Das war dumm von dir, Olivia, wirklich nicht sehr klug“, ertönte Tylors Stimme nur wenige Sekunden später hinter ihr, zusammen mit dem Klicken seiner Pistole. Sie war nun entsichert. Und das weitere Klickgeräusch verriet ihr, dass es Henrys auch war. Ab jetzt war Vorsicht angesagt. Olivia kehrte ihnen immer noch den Rücken zu und widersprach ihm etwas außer Atem.
„Oh nein, es war nicht sehr klug von euch .“ Ehe sie sich versahen, hatte Olivia zwei Messer aus der Tasche an ihrem Kleid gezogen, das eine war ihr Begrüßungsgeschenk vom Kartell gewesen und das andere hatte sie selbst mitgebracht. Das erste schleuderte sie, während sie sich umdrehte und den Kugeln der Pistolen auswich, die im selben Moment losgingen, auch schon in Henry. Sekunden später schon sank er zu Boden. Ein Schütze weniger. Ab diesem Moment war sie nicht mehr aufzuhalten. Mit dem anderen Messer traf sie einen Rekruten zielgenau in den Hals. Nun war Tylor richtig in Fahrt. Geschickt wich Olivia seinen Kugeln aus, während sie sich ihre Messer aus den beiden Toten zurückholte, nur um sie dann mit voller Wucht in die Brust vom zweiten Unbekannten und Tylor zu schmettern. Japsend gingen sie zu Boden. Schlussendlich stand Olivia mitten im Feld der Leichen. Sie fühlte sich wieder unbesiegbar, und genau das war sie in diesem Moment auch: unerschütterlich, unbezwingbar und unbesiegbar. Das Feuer, ihre Antriebskraft, begann, sich zurückzuziehen, da es nun nicht länger benötigt wurde, und schaffte Platz für die aufwallende Freude. Erneut war sie aus einem Kampf siegreich hervorgegangen. Ihr Blick schweifte über die Toten und in ihr formte sich zum wiederholten Mal eine ungreifbar große Stärke. Olivia schloss die Augen und genoss das Gefühl, das es ihr für eine kurze Zeit schenkte. Ihre blutgetränkten Messer zog sie aus den toten Körpern, und nachdem sie sie im Tau auf dem Gras der Lichtung gesäubert hatte, steckte sie sie wieder weg. Glücklich brach sie nach Hause auf.
Der Heimweg hatte an ihren letzten Kräften gezehrt und so gaben ihre Beine einfach unter ihr nach, als sie um kurz nach Mitternacht die Metalltür, die zur Tarnung mit Holz ummantelt war, zustieß. Olivia lehnte sich gegen die Holzvertäfelung und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ihr Haar fiel ihr zerzaust über die Schulter. Schwach beleuchteten die eingelassenen Deckenlichter den Raum, der ihr heute so viel kleiner erschien als sonst.
„Olivia, wo warst du? Zayn und Tiffany haben hier angerufen. Kann es sein, dass du Tiffany deine Nummer gegeben hast? Jedenfalls waren die beiden besorgt und …“ Ryan eilte aus seinem Zimmer. Er trug Jeans und T-Shirt. Schnell erkannte er das Ausmaß ihrer Erschöpfung. Ihr Atem ging unruhig, zugleich taten all ihre Glieder weh. Nur langsam normalisierte sich ihr Herzschlag wieder, jedoch würde das Restadrenalin in ihren Adern sie nicht ewig wachhalten können. Zwar war Olivia eine standhafte Kämpferin, aber auch sie besaß Grenzen. Ihre Füße schmerzten und ihre Beine brannten, ihre Muskeln waren zermürbt und ihr Geist wollte nur noch seine Ruhe.
„Was ist passiert?“ Ryans Stimme spiegelte Sorge wider, während er auf sie zueilte und sich neben sie kniete.
„Das Kartell hat mich gefunden. Henry, Tylor und zwei weitere wollten mich wieder zurückbringen.“ Verachtung schwang in ihren Worten mit. Er konnte in ihren Augen den Hass kurz aufblitzen sehen, bevor ihr Blick wieder Erschöpfung signalisierte. Ryan hob sie vom Parkettboden hoch und sie lehnte sich an ihn. Behutsam legte er sie auf dem bequemen, schwarzen Sofa im Wohnzimmer ab, schaltete die Lampe daneben ein und fing an, ihr ihre Schuhe auszuziehen und ihre Wunden zu betrachten. „Wo sind die Typen jetzt?“, wollte er wissen.
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