Dann rannte sie mit Schwung und kochender Wut in ihren Adern los. Direkt auf ihn zu. Seinem ersten Pfeil wich sie noch geschickt aus, doch er hatte schneller wieder nachgespannt und abgeschossen, als dass sie reagieren konnte, und so traf sie sein zweiter Pfeil in die Schulter. Der Schmerz entlockte ihr einen spitzen Schrei. Die metallene Spitze hatte sich in ihr Fleisch gebohrt und einen Teil ihres Knochens zerschmettert. Der Schmerz brannte wie Feuer in ihrem Schulterblatt, während ihr Herz energisch pochte und hämmerte. Das Leid befeuerte sie und so biss sie die Zähne zusammen und zog den Pfeil in einem Ruck aus der Wunde. Obwohl sie wusste, dass das nicht gerade die klügste Idee gewesen war, war ihr auch bewusst, dass der Pfeil sie nur behindert hätte bei ihrem Vorhaben, Tylor auf schrecklichste Weise die Kehle aufzuschlitzen.
Jedoch hatte sie nicht mit dem völlig neuen Level an Qual und Schmerz gerechnet, mit dem sie in diesem Moment Bekanntschaft gemacht hatte. Zwar hatte der Pfeil keine große Arterie getroffen, aber trotzdem rann Blut aus der Wunde an ihr herunter und tränkte ihren Trainingsanzug rot. Der Schweiß und das Blut glitzerten im grellen Licht um die Wette und sowohl ihre Kehle als auch ihre Lungen brachten sie beinahe um, so sehr schmerzten sie in ihr. Der Schmerz vernebelte ihren Verstand, und als Tylor sich über sie beugte und die Blutlache um sie herum genüsslich betrachtete, stieß sie unter Aufbringung ihrer letzten Kraft hervor: „Du bist schon so gut wie tot! Dafür werde ich sorgen. Du hast mein Wort!“
Dann wurde es schwarz vor ihren Augen. Die Erinnerung verschwand in der hintersten Ecke ihres Kopfes und nahm einen Teil des Schmerzes mit sich.
Erst einmal, dann zweimal atmete sie tief durch, als sich auch schon die zweite Erinnerung ihrer bemächtigte: Es war derselbe Raum wie bei Lamero gewesen, aber diesmal war sie älter, stärker. Nur leider änderte das nichts am großen Ganzen: Olivia war immer noch zu schwach gewesen. Henry schloss die Tür ab und drehte sich mit kalter Miene zu ihr um. Schutzlos war sie ihm ausgeliefert gewesen. Keinen hatte damals ihr Wohlergehen interessiert. Angst ließ sie erstarren, doch sie würde nicht betteln, weil sie wusste, dass es nichts ändern würde. Niemals. Er näherte sich ihr, dann fasste er sie bestimmend am Kinn und hob ihren schlaff herunterhängenden Kopf an.
Er sah die Traurigkeit in ihren Augen.
Er sah, dass sie aufgegeben hatte.
Zumindest in diesem kleinen Kampf.
Henry wusste, dass sie ihn inbrünstig hasste und noch mehr sich selbst, weil sie nur dasaß, auf dem Steinboden, und nicht handelte, doch es war ihm egal. Zu dieser Zeit war sie zu müde gewesen, zu erschöpft, um weiterzukämpfen. Ein Stückchen mehr brach sie in dem Moment, in dem er anfing, sie zu Sachen zu zwingen, die sie nicht wollte. Die Hoffnungslosigkeit erfüllte ihren Körper mit einer bleiernen Schwere. Einer der wenigen Augenblicke in ihrem Leben, in denen sie sich nicht gewehrt hatte. Später hatte sie es bitter bereut. Die Erinnerung wurde zwar wieder in die hinterste Ecke ihres Kopfes verbannt, aber die Trauer krallte sich trotzdem an ihr fest. Eine Träne rollte ihr über die Wange und vermischte sich mit dem Duschwasser, das immer noch in Schlieren an ihr herunterlief. Olivia schluchzte auf und dann brach der Damm in ihr. Bitterlich weinte sie jene Tränen, die es vor ihren Feinden nicht aus ihr herausgeschafft hatten. Ihre Beine fühlten sich schwer an, obwohl ihre Last in letzter Zeit leichter geworden war. Olivia konnte sich nicht länger auf ihnen halten und setzte sich, die Ellenbogen auf die Knie abgestützt, auf die hellgrauen Steinfliesen unter ihr, vergrub die Hände in ihren Haaren und weinte ungesehen von der Welt ihre Tränen. Es brauchte eine Weile, aber irgendwann versiegte der Strom und sie verließ die Dusche auf wackeligen Beinen.
Als sie dann endlich in ihrem Bett lag, war ihr selbst das Denken zu viel. Innerlich war sie leer. Die Turmglocken hörte sie noch schlagen, bevor sie auch schon hinabsank in die Welt der Träume, doch nicht einmal dort machte ihre Vergangenheit halt, sie zu quälen.
Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten sie wach, als sie durch die Fenster brachen. Die Wärme, die sie mit sich brachten, tat ihr gut. Einen Moment lang genoss sie sie, dann öffnete Olivia die Augen und das Licht blendete sie. Nachdem sie ein paar Mal geblinzelt hatte, ließ sie ihren Blick im Raum umherschweifen. Er war so anders als das Zimmer, das sie früher hatte. Von Sekunde zu Sekunde wacher werdend, schaute sie von ihrem dunklen Bett über ihren hellen Teppich, den dunkelbraunen Parkettboden, der überall im Appartement verlegt war, die Eichenholzmöbel, die schwarze Holzvertäfelung mit den feinen Spiegeln, die die Wände umkleidete, bis hin zu dem dunklen, mit länglichen Edelsteinen besetzten Kronleuchter, der einen Kontrast zur weißen Decke bildete. Ihr Schlafzimmer war wie sie. Hell an manchen Stellen, doch dunkel an den meisten. Es hatte fast etwas Geheimnisvolles an sich – und ein paar Sachen verbargen sich hier durchaus. In einem Fach ihres Nachttisches befand sich eine Glock 17, unter ihrem Bett eine Wurfmessersammlung, in ihrem Schrank eine weitreichende Sammlung an Schusswaffen, und zwölf unterschiedliche Wurfsterne schauten einen an, wenn man ihre Spiegel öffnete. Im gesamten Appartement hatte sie jegliche Art von Waffen versteckt. Nur für den Fall, dass ihr Vater mal mit seinen Freunden zu Besuch kam oder irgendwelche anderen unerwünschten Gäste sie behelligten. Wenn man die genauen Plätze der Waffen und die speziellen Öffnungsmechanismen jedoch nicht kannte, würde man sie auch nicht finden. Das kaputte Kleid von gestern hatte Ryan bereits entsorgt und ihre Wunden waren kaum mehr sichtbar.
Aus der Küche vernahm sie das Klappern von Geschirr und der Duft nach Frühstück, der durch ihre angelehnte Tür drang, zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Munter rollte sie aus dem Bett, machte sich fertig, zog sich ihre Trainingsklamotten an, band sich einen Pferdeschwanz und folgte dem Frühstücksduft in die Küche. Dort stibitzte sie sich ein Stück Bacon von Ryans Teller und biss genüsslich hinein. Ryan lachte herzlich, als er sie so unbekümmert sah. Sie ließ sich eben nicht unterkriegen. Was am Tag vorher passiert war, war abgeschlossen. Sobald ein neuer Morgen anbrach, gehörte der letzte der Vergangenheit an. Denn sie wusste, wenn sie das nicht tat, sondern ihre Vergangenheit immer wieder neu aufrollte, ständig darüber nachdachte, dann würde das, was bereits geschehen war, sie irgendwann zerfressen. Abschließen und Ausblenden war ihre einzige Option, wenn es um Nächte wie gestern ging. Wenn es nötig war, würde sie sich daran erinnern, aber zum jetzigen Zeitpunkt wäre es reine Selbstqual.
Nach dem Frühstück suchte sie den Trainingsraum auf. Er lag unter dem Gebäude in einem Kellerkomplex, den sie gekauft und für ihre Zwecke umfunktioniert hatte. Eigentlich hätte jeder Bewohner seinen Anteil daran, aber dank einer großen Tasche voll Banknoten, die sich jetzt im Besitz des Vermieters befand, gehörte er ihr ganz allein und die anderen Hausbewohner wussten nichts von seiner Existenz. So riesig wie das Gebäude war, so gigantisch war auch der Kellerkomplex. Im Trainingsraum angekommen, der mit einer ordentlichen Waffensammlung, allen möglichen Trainingsgeräten und einem mit Matten bedeckten Boden ausgestattet war, übte sie als Erstes mit einem Metallstab die Schlaggrundtechniken. Danach stand Messerwerfen auf dem Plan, wobei sie kein Ziel verfehlte, dann das Wiederholen von Nahkampf- und Faustschlagtechniken. Als sie nach den Wurfstern- und Waffenschießübungen gerade mit Pfeil und Bogen ihr siebtes Ziel anvisierte und in die Mitte traf, unterbrach Ryans Ankunft ihr Training. In der Hand hielt er ihr Telefon und bedeutete ihr, zu ihm zu kommen.
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