„Bei Lamero, Ricardo und den anderen“, antwortete sie matt.
„Hm. Bist du den ganzen Weg nach Hause etwa gelaufen?“
„Nicht alles. Nur so weit, bis ich wieder in die Zivilisation kam und mir ein Taxi nehmen konnte. Reg dich nicht auf, das waren nur wenige Kilometer.“ Sie schloss ihre Augen vor Müdigkeit und ließ sich auf den weichen Stoff unter sich sinken. Ryans entsetzte Stimme hielt sie wach. „Du bist was?! Olivia, das war nicht gerade clever. Vor allem nicht in den Schuhen!“ Für eine Weile fehlten ihm die Worte. „Deswegen sehen deine Füße auch so schlimm aus …“ Seine Stimme war nun weicher, fast zu weich für das ehemalige Mitglied eines Drogenkartells. Nun bemerkte er auch ihre anderen zerschrammten Körperteile. „Aber woher stammen die Kratzer an deinen Armen und Beinen … und in deinem Gesicht?“ Ryan drehte ihr durch kleine Schrammen beschädigtes Gesicht ins Licht der Stehlampe und sie seufzte leise, bevor sie zu Erklärungen ansetzte. „Erstens ist es gar nicht so schlimm, wie es aussieht. Es sind nur Kratzer, wie du schon sagtest. Bis morgen dürften sie verheilt sein. Und zweitens bin ich durch den Wald gelaufen, für den Fall, dass noch mehr Leute meines Vaters vor Ort waren, um diese Uhrzeit logischerweise auf der Zufahrtsstraße des Anwesens und nicht im umliegenden Waldgebiet. Dabei waren die Äste der Bäume nicht gerade meine allerbesten Freunde. Es war zu gefährlich, nachdem ich Henry, Tylor und ihre Rekruten auf der Lichtung getötet hatte, wieder zurückzugehen, also hielt ich mich nahe der Straße und folgte ihr in Richtung der nächstgelegenen Stadt.“ „Mann, Olivia, du bringst dich echt immer in Gefahr. Wie haben sie dich überhaupt finden können?“ „Mein Vater lässt die Morde an seinen hochrangigen Mitgliedern natürlich nicht unbeachtet. Wenn jemand seine Leute umbringt, darf er das doch aus Gründen der Ehre nicht ignorieren. Er will den Mörder finden und dann dasselbe wie ich: Rache. Deswegen waren sie in der Stadt. Und dass sie mich dann entdeckt haben, war wohl einfach ein blöder Zufall.“ In diesem Moment wusste sie genau, was er dachte. „Kein Grund zur Sorge, Ryan. Wenn sie ihn vorher informiert hätten, dass ich mich in London aufhalte, hätte er ihnen befohlen, mich im Auge zu behalten und nicht direkt zu konfrontieren. Du weißt doch, wie er ist: Um Familienangelegenheiten kümmert er sich immer persönlich.“ Ihr Blick glitt zur Eichenholzkommode neben dem Fenster, bevor sie ergänzte: „Außerdem habe ich es an ihren Worten gemerkt, dass sie meinen Vater noch nicht eingeweiht hatten.“ Eine Weile schwieg Ryan, dann stand er auf. Anscheinend hatte er zunächst keine Fragen mehr. Weil ihm während des Gesprächs ihre raue Stimme aufgefallen war, holte er ihr aus der Küche ein Glas Wasser. Sie leerte es begierig in mehreren Schlucken. Nun war ihr Durst gestillt und Ryan nahm neben ihr auf der Couch Platz. Man sah Olivia an, wie ausgelaugt sie war, doch neben der Müdigkeit machte ihr unbemerkt auch noch etwas anderes zu schaffen. „Sie haben mich zusammen mit Zayn gesehen. Ich wollte ihn nicht in die Schusslinie bringen, deshalb tat ich so, als wäre er nur einer meiner vielen Eroberungen … Ich habe ihn geküsst, bin mit ihm in ein Hinterzimmer gegangen und habe ihn dort bewusstlos geschlagen. Dann habe ich mich so hergerichtet, als ob ich mit ihm Spaß gehabt hatte, und sie von ihm und den anderen weggelockt.“ Sein Blick streifte nun ihr zerfetztes Kleid und er verstand schnell. „Du hast gesagt, du hättest so getan, als wäre er unbedeutend, aber ist er es denn auch? So, wie du dich offensichtlich um ihn gesorgt hast?“ Er wusste, er war nicht berechtigt dazu, diese Fragen zu stellen. Was Olivia sofort bestätigte: „Wer bist du? Mein Kummerkasten?“ „Ich bin dein Freund und will nicht, dass du dich seinetwegen in Gefahr begibst oder er dir das Herz bricht“, stellte er klar. „Du machst dir Sorgen um mein Herz? Dabei vergisst du etwa Wichtiges: Zuerst bin ich diejenige, die Herzen bricht und zweitens“, jegliche Wärme sickerte aus ihrer Stimme heraus, „kann man nichts brechen, das bereits kaputt ist.“ Sie spürte eine Träne, doch wie so oft in letzter Zeit hielt Olivia sie zurück. Sie hasste es, zu weinen. Weinen vor anderen offenbarte ihre Verletzbarkeit und Schwäche. Niemand sollte von ihnen erfahren – mit Ausnahme von Ryan, der Person, für die sie eh nichts Neues mehr waren. Trotzdem konnten solche Dinge eines Tages Olivias Untergang bedeuten. Dabei war es nie ihr Ziel gewesen, unterzugehen. „Okay, du bist müde und fertig“, sagte Ryan, „du solltest jetzt schlafen gehen und dich ausruhen. Wir reden morgen über das weitere Vorgehen wegen des Kartells. Meine Informationen können warten.“ „Das werde ich tun, danke.“ Sie lächelte ihm zu. Schwerfällig erhob sie sich, und als sie schon fast aus dem Raum hinaus war, hielt sie inne, eine Hand auf dem Türrahmen liegend, und drehte sich noch mal zu ihm um. „Was haben Zayn und Tiffany eigentlich gesagt?“ „Tiffany wollte nur wissen, ob du gut nach Hause gekommen bist, weil du so schnell weg warst, und Zayn, na ja, er war ziemlich wütend und auch etwas verwirrt. Du wirst ihm am Montag einiges erklären dürfen. Denk dir lieber eine gute Geschichte aus!“ „Mach ich.“ Dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Sie brauchte Zeit und vor allem Ruhe zum Nachdenken.
Szene 13:
Nachdem sie sich ihrer Kleidung entledigt hatte und das erste warme Wasser ihre verspannten Muskeln lockerte, seufzte sie erleichtert. Für wenige Momente schloss sie ihre schweren Lider und vernahm nur das Geräusch des Wassers, welches hart auf den Boden prasselte. Der heiße Wasserdampf hüllte sie in einen weißen Nebel.
Als sie das Blut ihrer Feinde abwusch, was auf der Haut an ihren Händen getrocknet war, färbte sich das Duschwasser zu ihren Füßen für einige Augenblicke kristallrot, nur um dann im Abfluss zu verschwinden. Wie oft hatte sie das schon gemacht, das Blut der Toten von ihrer Haut gewaschen? Es stand immer für einen Kampf – ihren Kampf ums Überleben.
Vielleicht war sie gerade körperlich extrem erschöpft, aber auch innerlich erging es ihr nicht anders. Olivia war es leid, für ihr Leben und ihre Freiheit kämpfen zu müssen. Für einen flüchtigen Augenblick rann die Wut erneut durch ihre Adern und sie schlug ihre Faust frustriert gegen die Scheibe der großräumigen Duschkabine.
Eine kleine Weile lang dachte sie an rein gar nichts.
Doch sobald sie die Augen wieder schloss, kamen wie erwartet die Erinnerungen an Henry und Tylor hoch, um sie ein letztes Mal zu quälen: Erst erblickte sie Tylors Gesicht. Sein dunkles, verstrubbeltes Haar. Aber von seiner Attraktivität hatte sie sich nie täuschen lassen, denn im Kartell galt meistens: Je schöner von außen, desto hässlicher von innen. Paradebeispiel hierzu war er gewesen. In ihrer Erinnerung befanden sie sich im Trainingsraum. Tylor hielt mit beiden Händen unter geringem Kraftaufwand Pfeil und Bogen auf Olivia gerichtet, sie war seine menschliche Zielscheibe. Bedrohlich glänzte die Pfeilspitze im Licht. An diesem Tag hatte er sie besonders in die Mangel genommen. Die Angst und das Adrenalin hatten sich in ihrem Blut zu einer Kraft vermischt, die sie trotz der großen Erschöpfung in ihrem gesamten Körper auf den Beinen hielt. Sie war wütend, doch nicht so wie normal. Diesmal formte sich ihr Wille stärker denn je heraus. Olivia stand kurz vorm Explodieren. Bereits seit einer Stunde rannte sie ununterbrochen. Tylor hatte sie mit Pfeilen einen Parcours hochgejagt, immer und immer wieder. Ihr reichte es nun! Alles in ihr spannte sich an. Sie wollte nicht mehr davonrennen. Nicht vor ihm. Sie fokussierte ihn und presste ihre Augen zu Schlitzen, um alles um ihr Ziel herum auszublenden.
Читать дальше