Polizeiobermeister Konrad Rumminger stand hinter ihm.
„Noch nicht. Sie hatte keine Papiere und kein Handy bei sich. Das macht die Sache nicht einfacher.“
Richard seufzte und gab dem Beamten innerlich recht. Eine Tote ohne Papiere bedeutete in der Regel ein erhebliches mehr an Arbeit. Er ging einige Schritte zurück und blickte abermalig nach oben, wobei er die Arme vor seinem Brustkorb verschränkte und nachdachte. Sein Blick wechselte von der einen Kilometer langen Fahrbahn, die über das Tal führte, wieder nach unten zu der Leiche und erneut nach oben.
„Was guckst du dauernd nach oben?“, wollte Manfred von ihm wissen, nachdem er die Leiche in Augenschein genommen hatte.
„Weiß nicht. Irgendwas in meiner Bauchgegend sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Ich kann nur nicht einordnen, was es ist?“
„Liegt es vielleicht daran, dass du noch nicht gefrühstückt hast?“, hakte Manfred nach?
„Ich weiß es nicht.“
Richard ging wieder zu Rumminger, der etwas abseits stand, wahrscheinlich um den Ermittlern nicht im Weg zu sein, und vermerkte etwas in sein Notizbuch.
„Wer hat die Tote gefunden?“
Er deutete, ohne von seinem Notizbuch aufzuschauen, mit dem Kopf nach hinten.
„Die Frau, da hinten, mit dem Hund hat die Leiche gefunden. Ist aber gerade nicht vernehmungsfähig. Schock, verstehen sie?“
Richard blickte in die Richtung, wo die Frau mit ihrem Labrador auf einem Baumstamm saß und ins Leere blickte.
„Hat die Frau oder der Hund etwas angefasst, oder verändert?“
„Nein.“
Das war für Richard sehr wichtig, da die Spurensicherung am Tatort die Spuren zuordnen musste.
Manfred ging langsam zu der Frau, kniete vor dem Hund, der seinen Kopf auf seinen Vorderpfoten gelegt hatte, und ebenfalls ins Leere stierte.
Sie saß auf einen Baumstamm und wirkte, wie konnte es nach diesem Ereignis auch anders sein, irgendwie abwesend.
„Einen schönen Hund haben sie da.“
„Danke.“ Die Frau hatte dunkle, braune Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren.
„Meinen Sie, sie könnten mir ein paar Fragen beantworten? Oder ist es gerade etwas schlecht?“
Man hatte der Frau bereits einen Becher mit Kaffee gegeben, den sie nun mit ihren beiden Händen festumschlossen hielt.
„Geht schon“, sagte sie, ohne Manfred anzuschauen. „Was wollen sie wissen? Viel kann ich ihnen nicht sagen.“
Er wandte sich ihr zu, sodass beide auf Augenhöhe waren. Der Blick der Frau wanderte nun zu Manfreds braunen Augen.
„Wann haben sie die Frau gefunden?“, wollte Manfred wissen?
„Gegen halb sieben. Ich geh morgens vor der Arbeit immer noch einer Runde mit dem Hund spazieren.“
„Kannten sie die Tote?“
Sie schüttelte den Kopf und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Manfred wusste, dass es jetzt keinen Sinn mehr machte, weitere Fragen zu stellen.
„Nehmen sie sich heute frei und gehen sie nach Hause. Wenn etwas sein sollte, melden wir uns.“
Er drückte ihr seine Visitenkarte in die Hand.
Die Frau schien erleichtert, stand auf, wobei es der Hund ihr gleich tat, und beide entfernten sich langsam. Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal um, winkte ihm zu. Dann ging sie.
Manfred lief zurück zu Richard und Rumminger.
„Und? Hast du was rausbekommen?“, wollte Richard wissen.
„Nicht viel. Aber das war im Moment auch nicht möglich. Sie steht neben sich. Versuchen wir es später bei ihr. Sie hat nur gesagt, dass sie die Tote heute Morgen um halb sieben gefunden hat. Und gekannt oder gesehen hat sie das Mädchen auch noch nicht. Aber in dem Zustand würde ich auch niemanden erkennen.“
„Ich frag mal drüben nach, ob die schon was sagen können“, sagte Richard.
Walter Riegelgraf, Leiter der Rechtsmedizin Stuttgart hatte bereits mit der Untersuchung der Leiche begonnen, als Richard zu ihm kam. Er war Mitte vierzig und bis auf seinen Bauch recht schlank. Richard zog ihn deswegen beim Mittagessen in der Kantine immer wieder auf, was seinerseits dann meist zu verbalen Diskussionen führte, die bei den Kollegen für feuchte Augen sorgten.
Er kniete über der Leiche und begutachtete sie.
„Selbstmord würde ich auf den ersten Blick sagen. Sie war sofort tot. Aber das ist kein Wunder, bei einer Aufprallgeschwindigkeit von mindestens 150 Kilometer pro Stunde“, meinte Walter Riegelgraf, noch bevor Richard etwas sagen konnte.
„Todeszeitpunkt? Ungefähr?“
„Circa vor sechs Stunden.“ Er blickte auf seine Uhr. „Also gegen drei Uhr heute Morgen.“
„Hmm“, machte Richard.
Walter Riegelgraf drehte sich um und blickte zu ihm hoch.
„Dein `Hmm` gefällt mir nicht. Das klingt für mich nach mehr Arbeit.“
„Die Uhrzeit macht mich stutzig. Drei Uhr heute Morgen?“
„Plus minus, eine halbe Stunde. Das ist, was ich, Stand jetzt, sagen kann. Wegen der Uhrzeit willst du doch jetzt keinen Aufstand machen, oder?“
„Nein, nein. Ich versteh bloß nicht, warum sich jemand morgens um drei Uhr die Mühe macht hier runter zu springen.“
„Selbstmörder sind auch nicht zu verstehen, deswegen machen sie in der Regel so etwas. Wenn man von da oben runter springt und hier unten aufschlägt, ist es ziemlich sicher, dass du tot bist und die Uhrzeit ist dann auch egal. Ich kenne jedenfalls niemanden, der einen Sprung aus fünfzig Metern Höhe überlebt hat.“
Walter Riegelgraf hatte recht. Und doch, die Unruhe in Richard wurde immer stärker, denn er war sich sicher, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
Manfred kam dazu.
„Was hast du denn?“
„Mein Bauchgefühl sagt mir, dass hier mehr dahintersteckt.“
„Leider kann man mit Bauchgefühl nicht ermitteln.“
Richard deutete Manfred an, nach oben zu schauen.
„Siehst du das? Von dort oben ist sie runtergesprungen.“
Manfred sah Richard etwas ungläubig an.
„Sicher. Flugzeug scheidet aus. Sonst wäre sie nicht hier gelandet. Was willst du mir damit sagen?“
„So wie sie hier liegt, ist sie von der Seite gesprungen, die Richtung Stuttgart führt.“
„Und?“
„Mann, bist du begriffsstutzig“, maulte Richard. „Die Frau ist vom Brückenanfang gesprungen. Das macht irgendwie keinen Sinn. Wie kommt sie dahin? In der Regel nimmt sie doch ein Auto, stellt es auf den Parkplatz am anderen Ende der Brücke und springt dort runter.“
„Und das lässt dich zweifeln?“ Manfred konnte mit der Theorie von Richard überhaupt nichts anfangen.
„Sei mir nicht bös. Aber um mich zu überzeugen, musst du schon ein bisschen mehr aufbieten.“
„Gut. Lass uns um das Mittagessen wetten. Wir werden da oben kein Auto finden, das zu der Frau passt. Nicht auf dem Parkplatz und auch sonst nicht.“
„Na das allein ist noch kein Grund zu wetten. Vielleicht ist sie ja zu Fuß da hoch.“ Manfred sah sich um. „Wahrscheinlich durch den Wald und dann oben über die Absperrung.“
Richard sah zu Walter Riegelgraf.
„Walter, kurze Frage: Hast du an den Schuhen der Toten irgendwelche Reste von Waldboden feststellen können?“
Walter Riegelgraf setzte seine Brille auf und sah sich die Sohle der Schuhe an. Nach erfolgter Überprüfung schaute er Richard und Manfred durch die Gläser nach oben und sagte: „Auf den ersten Blick, nein. Die Schuhe sind, soweit ich sehen kann, zwar abgelaufen, haben aber keine Erde an der Sohle. Und was das Mittagessen angeht, ich wette mit.“
„Den Salat, den du immer isst, verkrafte ich auch noch. Aber ich denke, das wird für euch beide teuer. Zwei Mittagessen für mich.“
Richard rieb sich in froher Erwartung die Hände und blickte zu Manfred.
„Deine Theorie scheidet schon mal aus. Ich sehe das Mittagessen.“
„Darf ich mal fragen, auf was das hier eigentlich rausläuft, nur der Form halber.“, wollte Walter Riegelgraf wissen.
Читать дальше