Dennoch sahen sich beide Mädchen sehr ähnlich. Irgendwie hatte man den Eindruck, dass sich beide bemühten, sich so gut es eben ging, von der anderen zu unterscheiden und abzusetzen. Es war als lebten sie beide in unterschiedlichen Welten, auch wenn sie zweifelsohne aus derselben Quelle entsprungen waren.
„Ihr beide“, sagte Emilia leise. „Issa und Ina…“ Sie hielt das Bild vorsichtig der Enkelin hin, die erst eine abweisende Bewegung machte, doch schließlich nahm sie es entgegen. Hielt es lange wortlos mit angehaltenem Atem und zugeschnürter Kehle. Emilia sah die verkrampften Hände, die das Bild hielten, und den einsamen Tränentropfen, der auf das Glas fiel und schließlich langsam daran hinunterrann. Sie ließ den Schwestern Zeit für sich, wartete ob eine von ihnen sprechen wollte. Doch sie blieben still. Alle. Die beiden auf dem Foto. Die eine alleine hier auf dem Sofa. Sie würden miteinander reden, das spürte sie. Nur nicht jetzt. Nicht hier. Es war gut für den Augenblick, genug für die Enkelin, die nach einer Weile still mit dem Bild in der Hand aufstand und es zurückstellte zu den Ahnen. Ihr Gesicht war ruhig als sie sich zur Großmutter umwandte und ihr leicht entgegenlächelte.
Erleichtert lächelte Emilia zurück. Sie war sich sicher, dass jetzt der richtige Moment war. „Ich würde dir gerne etwas geben“, sagte sie hin zu Marissa, die ihre Großmutter dann neugierig beobachtete, wie diese zum Schrank mit den alten Schätzen ging und dort die Schublade ganz unten aufzog. Sie musste sich tief bücken, was ihr merkbar schwerfiel, aber sie lehnte Marissas Hilfe ab. „Nein – es geht schon. Ich will es dir selber geben.“ Endlich erhob sie sich mühsam. In der Hand hielt sie eine Schachtel mit goldenen Emblemen verziert, die diese als ehemalige Pralinenschachtel enttarnten. Emilia schüttelte gleich den Kopf als sie merkte, dass Marissa etwas Süßes erwartete. „Nichts zum Naschen“, lachte sie. „Etwas für das Erinnern und für das Ich. – Komm, setz dich.“ Sie klopfte auf die Polster neben sich auf dem Sofa, auf das sie sich schwer atmen hatte fallen lassen. „Ich zeig dir jetzt etwas.“ Sie nahm den Deckel von der Schachtel und einen Packen zusammengebundener Briefumschläge heraus. Diese hielte sie sekundenlang fest, bevor sie sie zur Seite legte. „Nein – erst das hier“, meinte sie und griff nach einem dicken, stark abgegriffenen Buch. „Die Aufzeichnungen meiner Mutter“, sagte sie mehr zu sich als zu ihrer Enkelin. „Während des Krieges hat sie darin alles festgehalten, was sie erlebt und bewegt hat. Geschichten von uns allen, unserer Evakuierung… Da drinnen stehen ein paar Dinge, die so niemand weiß. Aber auch Daten und Fakten von Zeiten, die ich nicht gerne erinnere…“ Sie hielt die Luft an bevor sie weitersprach: „…ich möchte, dass du es liest. Vielleicht kann es dir helfen, einiges besser zu verstehen.“
Auch Marissa hielt jetzt die Luft an. “Bist du sicher? Das ist doch sehr persönlich. Du kannst es mir doch auch erzählen.“
Emilia schüttelte den Kopf. „Nein. Erst habe ich es vorgehabt. Aber ich kann das nicht. Ich war noch nie eine große Erzählerin. Nein – lies es nur. Ich möchte es. Und diese hier“, sie zeigte auf den Packen Briefe, „die haben dann noch Zeit bis später.“
Marissa hielt das Buch unsicher in der Hand, fuhr mit den Fingerspitzen leicht über den fleckigen über die Jahre mitgenommenen Einband, versuchte dem nachzuspüren, was darin enthalten war.
Sie schaute zu der alten Frau hinüber, die in die Küche gegangen war um das Mittagessen vorzubereiten und blickte dann wieder auf das Buch. Was hatten dieses und die graugewordene Frau gemeinsam? Für sie war die Großmutter immer Oma gewesen. Natürlich kannte sie ihren Vornamen, wusste, dass Emilia einmal jung gewesen war, ein Kind - aber irgendwie schien es unmöglich die Vorstellung mit der Oma in Verbindung zu bringen. Als wären sie zwei verschiedene Personen. Möglich, dass es tatsächlich so war. Eine junge und eine alte Emilia. Und doch gehörten sie zusammen, die eine konnte nicht ohne die andere existieren. Wie seltsam, dass eine Person so viel sein konnte. Sich äußerlich und innerlich wandeln und dennoch immer dieselbe blieb. Ein Mysterium von unendlicher Weite. Alles war eins und gehörte zusammen. Werden und Vergehen. Blühen und Verwelken. Freude und Trauer. Licht und Dunkel. Tag und Nacht. Vergangenheit und Gegenwart. Ich und Du. Träumen und Wachen. Liebe und Schatten. Ebbe und Flut…
Sie, Marissa, war auch mehr als nur eine Person. Das spürte sie in diesen Tagen nur zu deutlich. Manchmal war es für sie mehr als schwierig damit zu Recht zu kommen, sich auf den Anteil ihres Charakters einzulassen, der gerade in den Vordergrund drängte, beachtet werden wollte, obwohl sie selber diesen in dem Moment nicht gerne begegnen wollte. Aber scheinbar hatten alle ihre Ich-Anteile ein Eigenleben, wollten gelebt und gespürt werden. Vielleicht war es am einfachsten, das hinzunehmen, sich nicht dagegen zu sträuben. Schließlich war letztlich ja alles sie.
Der Gedanke beruhigte sie auf eigentümliche Weise. Befreite sie von einem Druck in ihrem Inneren. Sie lehnte sich tiefer in die Polster des Sofas und spürte wie sich ihre Verspannung löste, die Muskeln locker wurden und ihr Kopf frei. Sie hörte auf das starke Prasseln des Regens, der von draußen gewaltig gegen die Fenster klopfte. Es klang fast wie das Rauschen des Meeres. Und das ewige Kommen und Gehen der Wellen. Das Geräusch lullte sie ein und sie sank in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Angenehm eingehüllt von Wärme und Ruhe. Sie lag mit geschlossenen Augen da und sah hinter ihren Lidern Licht und Schatten in wechselnder Folge hin und her schweben.
Die Stimme der Großmutter, die sie zum Essen rief, holte sie aus ihrem Schwebezustand. Als sie sich aufsetzte, merkte sie, dass ihre Hände die ganze Zeit das Geschichtenbuch gehalten hatten. Der Umschlag war warm und weich geworden durch die intensive Berührung. Behutsam legte sie es beiseite, wickelte sich aus der Decke, in die sie sich eingehüllt hatte und stand auf.
Lesen würde sie später darin und Bekanntschaft mit der unbekannten Emilia schließen. Und all den anderen.
*
Nach dem Mittagessen, das für Marissa mit einer mächtigen Portion Roter Grütze mit Vanillesauce endete, zog sich Emilia für einen ausgiebigen Mittagschlaf zurück in ihr Zimmer. Marissa war nicht müde. Gerne wäre sie hinausgegangen aber er regnete immer noch recht stark. Versuchsweise öffnete sie die Hintertür und blickte über die Terrasse hin in den Garten, der sich unter der Regenmenge duckte. Bäume und Sträucher waren hinter einem großen Tropfenvorhang versteckt. Irgendwie schienen sich die Pflanzen aneinander zu lehnen um sich gegenseitig Schutz zu bieten. Die Luft roch würzig und frisch und es tat gut, davon einen tiefen Atemzug zu nehmen. Am Meer würde es sicher richtig spannend sein. Marissa stellte sich die graue See mit hohen Wellentürmen vor, die sich gegenseitig überschwappten. Sie spürte beinahe die Nässe von Regen und Meeresgischt auf dem Gesicht und war drauf und dran, sich dahin aufzumachen. „Was meinst du Teo“, fragte sie den Kater, der neugierig seine Schnauze durch die offene Tür gesteckte. In dem Moment wehte eine Böe Regen zu ihnen herüber, sodass beide von der Tropfendusche getroffen, zurückwichen. Der Kater maunzte empört, zog den Schwanz ein und verschwand in Richtung Korb, wo er sofort das Wasser von sich leckte. Marissa lachte. „Na – ist wohl doch keine so gute Idee.“ Sie schloss ergeben die Tür und blickte unschlüssig um sich. „Und nun?“ Die Frage galt eher ihr selber als dem Kater und eigentlich wusste sie die Antwort. Es zog sie auf das Sofa – hin zu dem schmutzig-grünen Buch, das dort lag und darauf wartete, gelesen zu werden. Jetzt war die Gelegenheit. Aber sie zögerte. Irgendwie war da eine Scheu in ihr, die Seiten aufzuschlagen und das zu lesen, was ihre Ur-Großmutter vor vielen Jahren ihnen anvertraut hatte.
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