Emilia lächelte und sah zufrieden, wie sich Marissas Lippen in kürzester Zeit rotgefärbten und auf deren Gesicht gleichzeitig ein freudiges Grinsen ausbreitete. „Tut mir Leid, dass ich gestern so abgedampft bin“, kam es dann von den roten Lippen der Enkelin, „ich musste einfach…“
„Schon gut, Issa. Ich verstehe das. Irgendwie ist so viel passiert seit du hier bist. Und überhaupt...“ Emilia machte eine unbestimmte Handbewegung, die alles sagte und nichts. „…ich würde dir nachher gerne etwas zeigen und auch erzählen, wenn du willst. Heute ist, denke ich, eh nicht der Tag für Außenaktivitäten.“
„Nein, wohl nicht. Nicht mal Teo wagt sich vor die Tür.“ Der Kater war nach seinem Mahl leise durch die Küche geschlichen und neben Marissa auf die Bank gesprungen, augenblicklich schnurrte er zufrieden als Marissa ihm leicht am Hals kraulte. „Du hast es gut“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
*
In die Wohnstube war es immer ein wenig dunkel, da die kleinen, milchigen Fenster nicht viel Licht hereinließen und durch das heutige Regengrau, erschien der Raum nur aus einer Ansammlung dunkler Schatten und Umrisse zu bestehen, die sonst wohl Möbelstücke, Kissen, Decken, Bücher und Bilder waren. Emilia knipste die alte Stehlampe neben dem Sofa an, doch ihre Glühbirnen reichten nicht aus, die dunkle Umgebung etwas zu erhellen. Als sie den Leuchter an der Decke einschaltete wurden die Konturen der Gegenstände endlich klarer und eindeutiger. „Wir könnten beinahe Feuer machen. Irgendwie ist es heute recht ungemütlich“, meinte Emilia und war drauf und dran, sich am Kamin zu schaffen zu machen. Aber Marissa schüttelte den Kopf. „Nein, lass nur. Hier auf dem Sofa ist es gemütlich. Wir haben ja Decken.“ Sie beobachtete wie die Großmutter scheinbar planlos hin und her lief, so als wüsste sie nicht, was sie eigentlich wollte. Als ob sie etwas hinauszögerte, was ihr schwerfiel. Marissa überkam eine flatternde Unruhe im Bauch. Was wollte sie ihr zeigen, was erzählen? Und wollte sie, Marissa, überhaupt etwas gezeigt bekommen, etwas hören? Mit einem Mal hatte sie den Impuls aufzuspringen und davonzulaufen. Das Verhalten der Großmutter irritierte sie und machte sie unsicher.
„Was ist, Oma? Was suchst du?“ Mit der ausgesprochenen Frage übertönte sie das Gefühl in sich, gab sich Halt durch den Klang im Raum. Scheinbar schien Emilia sich dadurch auch wieder zu fassen. Atemlos ließ sie sich neben der Enkelin auf das Sofa sinken. „Ach, Issa. Ich suche den Anfang.“
„Den Anfang?“ Marissa sah sie verständnislos von der Seite an. „Welchen Anfang?“
„Den Anfang zu der Geschichte. Deiner, meiner, die deiner Mutter, deines Großonkels. Unserer Geschichte.“ Erschöpft lehnte sie sich zurück an das Rückenpolster des Sofas. „Es ist nicht leicht…“
„Aber ich kenne doch unsere Geschichte“, meinte Marissa, „ich kenne euch alle. Uns.“ Noch während sie das sagte, merkte sie in sich viele unzählbare Fragezeichen auftauchen. War es wirklich so? Kannte sie die Familie? Und vor allem, kannte sie sich?
„Möglich“, nickte Emilia. „Du kennst uns so, wie du uns jetzt siehst. Du weißt, dass wir eine Familie sind. Du kennst unsere Namen und Gesichter und du hast durch die eine oder andere Erzählung erfahren, was jeder früher getan und erlebt hat. Doch du und auch ich, wir alle, wissen eigentlich nichts von dem wirklichen Ich des anderen, von seinen Gefühlen, von seinem Seelenleben. Darüber wurde nie viel gesprochen. Doch das hätten wir tun sollen. Schon längst. Es gab und gibt so vieles, was ausgesprochen gehört. Weißt du, ich hätte auch nicht gedacht, dass es so wichtig ist, Gefühle zu äußern, zu zeigen, zu benennen. Doch gestern nach meinem Gespräch mit Timo Schmidtmann ist es mir überaus klar geworden. Schon allein deshalb, weil ich mir sehr wünsche, dass es dir gut geht. Dass es auch deiner Mutter gut geht. Uns allen. Ich mache mir Sorgen. Mir tut es so sehr weh zu sehen, wie sich deine Mutter quält und du... “ Emilia hielt atemlos inne, ihr blieben die Worte im Hals stecken, der voll war mit Herzklopfen. Sie nahm Marissas Hand zwischen ihre beiden Hände, verharrte mit ihr in schweigender Unbeweglichkeit. Um sie herum schwirrte die Luft voller unausgesprochener Worte und Empfindungen, sausten durch den Raum in immer schnellerem Tempo bis sie sich selbst eingeholt hatten und vor den beiden auf dem Sofa haltmachen. Ein leiser wortloser Laut hing da vor ihnen, entwichen aus dem Mund der Enkelin. Vom Kaminsims aus sahen stumme Gesichter der Vergangenheit zu ihnen herüber. Eine Zeitlang beobachteten sie die Nachfahren, die da eng beieinander saßen und ließen ihnen den Raum, den sie brauchten um sich und einander zu finden in einer Ruhe der Geborgenheit. Doch dann wurden sie beweglich in ihren schmalen Bilderrahmen, die sie einzwängten und beengten, sie zum Stillhalten brachten. Und das schon seit vielen, vielen Jahren. Einige von ihnen waren schon über etliche Jahrzehnte in ihren engen Behältnissen gefangen und sehnten sich nach Luft und Freiheit, nach Aufmerksamkeit und Beachtung.
Emilia sah es ihnen an, wie sie am liebsten laut gerufen hätten: „Holt uns hier raus! Wir sind auch noch da. Wir gehören dazu!“
„Ist gut“, beruhigte sie die Ahnen im Stillen, „ihr kommt schon zu eurem Recht. Habt noch ein wenig Geduld!“
Marissa hob ihren Kopf und richtete sich auf. „Mit wem sprichst du denn da?“ fragte sie verwundert ihre Großmutter und schaute sich suchend um.
„Oh, habe ich laut gesprochen?“ Emilia lachte verhalten. „Sieh dort auf dem Kaminsims. Unsere Verwandten. Alte und junge. Alles Ahnen der Familie.“
Sie stand auf und trat zu den alten Herrschaften, die auf den Bildern fast durchwegs noch jung und gutaussehend waren. Manche schauten sehr streng, hatten sich für die Fotografie extra steif und gerade in Pose gestellt. Einige lächelten vorsichtig, wirkten aber auch sehr unbeweglich vor der Linse des Fotografen. Irgendwie ähnelten sie sich alle in ihrer Haltung und dem Ausdruck.
Auffallend war eine bemerkenswert hübsche junge Frau mit schwarzen, strengzurückgenommen Haaren, gerader Nase und hohen Wangenknochen. Ihre Augen blitzen vergnügt und ungeniert in diejenigen ihres gegenüber als ob sie sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen konnte. Marissa sah sie sich lange an, nahm die Fotografie dann vorsichtig vom Sims. „Sie war bestimmt nett und lustig. Ich hätte sie gemocht!“
„Ja, sicher“, nickte Emilia. „Das ist meine Mutter, deine Urgroßmutter. Sie hieß Mathilda und war als junges Mädchen sehr lebenslustig. Aber das Foto hast du doch schon mal gesehen und die anderen auch, nicht wahr?“
Marissa zuckte mit den Schultern. „Nur mal so, nicht wirklich.“
„Na ja, was interessiert ein junges Ding wie du auch die Vergangenheit.“ Emilia nahm das Foto ihrer Mutter sanft in die Hände und strich den Staub vom Rahmen. „Ich habe mich früher auch nicht viel darum gekümmert, aber alle diese Personen gehören zu uns. Sie sind ein Teil unserer Identität und haben uns viel von sich in unser Leben mitgegeben. Gutes und weniges Gutes. Schönes und Hässliches. Geschichten und Erinnerungen.“
„Ja, ich weiß.“ Marissa blickte von einem Bild zum nächsten, sah allen Verwandten in die Augen, suchte nach Gemeinsamkeiten und Erkennen. Dabei mied sie ein Foto, versuchte ihm auszuweichen, darüber hinwegzugleiten mit raschen Blick. Doch es haftete in ihren Augenwinkeln und wollte genauso wie die anderen ihre Aufmerksamkeit.
Emilia spürte, wie schwer es ihrer Enkelin fiel, dieses Foto anzusehen. Doch sie würde es irgendwann tun müssen. Also warum nicht gleich. Sie nahm es vom Sims, wo es zwischen den Schwarzweißfotografien als einzige Farbaufnahme wie ein bunter Vogel herumflatterte.
Es zeigte zwei Mädchen von etwa 10 und 12 Jahren. Eine blond, eine etwas dunkelhaariger, die eine etwas größer als die andere, die dafür das weichere, sanftere Gesicht hatte. Sie lächelte wie eine Märchenfee über den Bildrand hinaus, schien gar nichts wahrzunehmen, was um sie war und schwebte scheinbar traumverloren vor sich hin. Ihre langen hellen Engelhaare fielen ihr in weichen Wellen auf die Schulter und kringelten sich anmutig an den Spitzen. Das größere Mädchen neben ihr stand aufrecht da, von der Haltung her ungeduldig, wann sie wieder davonrennen könne. Ihre Haare waren kürzer und wilder als die ihrer Schwester und schienen wahllos drauflos zuwachsen. Ihre Augen blickten unverwandt in die Kamera, geradeaus und direkt. Fordernd.
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