Ein paar Tage ließ sie sich durch die freie Zeit treiben. Schlief lange, frühstückte spät - gerne auf ihrem winzigen Balkon, wenn das Wetter es zuließ. Las einen dicken, herrlich romantischen Liebesroman, räumte endlich ein paar Ecken in ihrem Zimmer auf, die sie lange erfolgreich in wohlmeinendem Dunkel gelassen hatte. Traf ein paar wenige Studienkollegen an der Isar oder im Englischen Garten, im Uni-Café. Viele waren nicht mehr da, verreist zu den Eltern, unterwegs mit Freund oder Freundin. Untergetaucht in den Urlaub.
Schließlich stand sie eines Tages auf und da war nur ein Nichts. Sie fühlte ein Vakuum um sich, das sie schonungslos bedrängte, die Luft hörbar machte und das Herz stolpern ließ. In der Nacht jagte sie ein panisches Gefühl angstgefüllt an das Fenster, raus auf dem Balkon.
Früh am nächsten Morgen packte sie eilig ein paar Sachen in ihren Rucksack, schaute im Internet nach den Abfahrtszeiten der Züge und war schon eine Stunde später auf dem Weg zum Bahnhof. Am Automaten zog sie sich die Fahrkarte und rannte gehetzt zum bereits warteten ICE Richtung Hamburg und Bremen. Sie hatte Glück und ergatterte einen freien Platz am Fenster. Bis zur Abfahrt blieben nur noch ein paar Minuten, die sie in angespannter Haltung verbrachte mit der unbegründeten Sorge, irgendetwas könnte sie noch davon zurückhalten. Als der Zug dann leise aus dem Bahnhof glitt und aus dem Gleisgewirr hinausfand, schließlich mehr und mehr an Fahrt gewann und die Landschaft zu einem zerronnen Bild verschwamm, entspannte sie sich, sank an das Sitzpolster und dämmerte davon. Von der Fahrt bekam sie kaum etwas mit, öffnete kurz die Augen als die Fahrscheine kontrolliert wurden. Gegen Mittag meldete sich ihr Magen unmissverständlich zu Wort. Im Bistro besorgte sie sich ein Sandwich und Wasser. Dann schlief sie wieder ihren Halbschlaf bis hin nach Bremen.
Der zugige Bahnhof empfing sie mit dem Gefühl, hierbleiben zu sollen. Sich nicht davonzuschleichen. Nicht an der Mutter vorbei zu huschen wie ein Dieb. Marissa blickte unsicher in die Gesichter der Menschen auf dem Bahnsteig. Doch niemand erkannte sie, niemand hielt sie auf und rief: Bleib hier. Trotzdem schaute sie sich immer wieder um als sie die Treppe hinunter stieg, den Gang entlang lief und schließlich durch die Bahnhofshalle hinaus auf den Vorplatz trat. Vorsichtig blieb sie dort stehen, ließ den Blick schweifen. Immer noch mit der Furcht, jemanden zu entdecken, der sie erkannte. Doch es wirbelten dort nur Menschen durcheinander, die die junge Frau im Bahnhofseingang nicht beachteten. Marissa atmete einen tiefen Zug Bremer Luft, sah zum Überseemuseum hinüber, wo sie als Kind immer wieder spannende Ausstellungen besucht hatte mit den Eltern, Großeltern – mit der Schwester. Wann war das gewesen? Sie hatte keine Zeit, sich lange mit den Gedanken daran aufzuhalten. Sie musste den Bus nach Bensersiel finden, der in wenigen Minuten abfahren würde. Er stand schon abfahrbereit da als sie ihn erreichte und war glücklicherweise nicht sehr voll. Sie setzte sich ganz hinten auf einen Fensterplatz und versank, sobald sich der Bus in Bewegung setzte, in eine Art Dämmerzustand.
Erst als sie endlich am Kai stand, die Fähre zur Insel vor sich sah, den frischen Seewind an ihren Haaren ziehen spürte, fühlte sie sich wacher. Die Zeit an Bord verbrachte sie ganz oben an Deck, obwohl der Wind da besonders zog und zerrte. Marissa blickte nach vorne über das Wasser, spähte zur Insel hin, die langsam immer näher kam und sie anzog wie ein Magnet. Sie kostete das Anlegemanöver bis zum Schluss aus und ging dann als letzte von Bord.
*
Dr. Schmidtmann kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen und schüttelte die ihre kraftvoll. Seine Augen suchten in ihrem Gesicht nach einer Reaktion als er sie herzlich begrüßte: „Schön, dass du gekommen bist.“
Marissa nickte nur leicht, mied den direkten Blickkontakt. Der Arzt ließ sich davon nicht irritieren und sprach weiter. „Du hast dich scheinbar erholt. Ich würde aber gerne noch ein wenig mit dir sprechen, hören wie es dir geht.“
Seine Stimme klang freundlich und ehrlich. Marissa spürte wie sich in ihr etwas löste. „Danke. Mir geht es gut.“
„Ich kenne dich ja gar nicht. Erzähl mir, was du so machst. Ich glaube, du studierst?“ Er ermutigte sie geduldig zur Offenheit. Lehnte sich in seinem Sessel zurück und grinste sie an. „Eine künftige Kollegin vielleicht?“
„Nicht Humanmedizin. Veterinärmedizin – 3.Semester.“
„Also eine Tierfreundin. Schön, spannend. Wie kam es dazu?“ Dr. Schmidtmann fragte nach, wollte immer mehr wissen. Und mit einem Mal hörte sich Marissa reden. Irgendwie öffnete sich ein Ventil in ihr, das Worte herausließ, die sich selbst nachliefen, immer schneller wurden, sich gegenseitig überholten bis sie ganz atemlos waren und drohten sich zu verzetteln. Die Begeisterung riss sie mit sich, schickte eine warmglühende Farbe auf ihr Gesicht und Bewegung in ihren Körper. Der Arzt sah und hörte das Gesagte und hörte und spürte noch viel mehr. „Du bist ja die geborene Rednerin“, warf er ein als Marissa schließlich langsamer wurde und die Worte nur noch vereinzelt hervorquollen. „Und scheinbar mit dem Tiermedizinvirus infiziert. Du wirst sicher eine wundervolle Tierärztin.“ Das sagte er schlicht und überzeugend, sodass es Marissa heiß im Gesicht brannte. „Leider habe ich jetzt nicht mehr Zeit, aber wir können gerne einen weiteren Termin ausmachen, damit ich noch mehr höre. Wie lange wirst du noch hier sein?“
Darüber hatte sich Marissa bisher keine Gedanken gemacht. Sie wollte nur an das Jetzt denken, das Hiersein genießen, mit allen Symptomen, die sich bemerkbar machten. Wollte das Meer inhalieren, die Luft trinken und den Sand schmecken. Die Insel erkunden, mit der Großmutter zusammen sein, reden und schlafen, Teo kraulen, Sonne tanken und frei sein.
„So lange es geht“, sagte sie jetzt und ging dann aus der Praxis mit einem Gefühl etwas gefunden zu haben.
Beim Eis essen mit der Großmutter war sie gelöst und gut gelaunt, lächelte manchmal still vor sich hin, redete dann wieder munter drauflos und löffelte genussvoll die kalte Süße voller Schokoladen-Himbeer-Vanille-Sahne-Seligkeit.
Emilia sah ihr belustig dabei zu: „Ich hoffe nur, dass ich dich nicht als nächstes von einem verdorbenen Magen kurieren muss.“
„Ach, nein, Oma. Jetzt ist es genug mit dem Kranksein. Ich möchte noch viel unternehmen…“ Marissa leckte genießerisch am Schokoladeneis auf ihrem Löffel, „…und“, setzte sie hinzu, „ansonsten gibt es ja Dr. Schmidtmann.“
„Der hat es dir wohl angetan“, mutmaßte Emilia.
„Ja, er ist sehr nett. Ich werde nochmal zu ihm in der Sprechstunde gehen. Er möchte noch einiges wissen.“ Sie tauchte ihren Löffel tief in die Eismasse. Emilia sah sie von der Seite an, wollte nicht denken, was sie dachte. Sie würde wachsam sein. Sehen und lauschen.
*
Eine beschwingte Energie durchfloss mit einem Mal die Tage und belebte den Rhythmus des Hauses. Kater Teo schaute mitunter irritiert der schnellen Marissa hinterher, die mit gesundem Knöchel und heilem Körper durch Räume und Garten lief, über den Dünenweg zum Strand eilte und erst Stunden später sonnendurchwärmt und wassergetaucht wieder erschien. Oft schwang sie sich auf das alte Fahrrad ihres Großvaters und erkundete damit alle Winkel der Insel, die sie ausfindig machen konnte. Erzählte dann abends glühend von den Eindrücken. Den stillen und den ungewöhnlichen. Von Beobachtungen des alltäglichen Lebens auf der Insel. Und manchmal erwähnte sie auch den Arzt, zu dem sie immer wieder in die Praxis ging. Emilia konnte sich nicht klar darüber werden, was sie davon halten sollte. Als sie Marissa fragte, was bei den Terminen so vor sich ging, sagte diese nur: „Wir reden. Ich rede.“
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