Kurz lugt Jessica um ihre rechte Trennwand zum benachbarten Schreibtisch. Ganz nebenbei sieht die Kleine aus wie ein missratener Haul von Katty Cool für Kookai.
Von sieben Aufträgen sind noch fünf zu bearbeiten, sofern keine weiteren eintrudeln. Wenn Jessica weiterhin solch drastische Flüchtigkeitsbolzen fabriziert, muss sie die ganze nächste Nacht im Großraumbüro verbringen.
„Jessica, entschuldige. Darf ich nochmal dein tolles Wörterbuch benutzen?“
Ohne aufzusehen winkt Jessica. Dabei stellt sie sich eine gelbgrüne Schleimspur vor, die pausenlos aus Isabells kirschrotem Mund blubbert.
So kann frau niemals arbeiten! Knete dein Hirn auf Form. Mehr Kaffee! Jessica springt auf, dass ihr Stuhl wegrollt, stürmt zum Kaffeeautomaten, zapft zwei Latte, balanciert damit zu Anna und flüstert ihr zu: „Wo hat Mario die denn eingesammelt?“
„Wen?“
Jessica deutet mit dem Daumen schräg hinter sich.
„Du musst doch am besten wissen, wie schwer Japanisch-Leute aufzutreiben sind.“
„Hat die überhaupt eine Uni von innen gesehen? Null Ahnung, die Puppe.“
Anna zuckt gleichgültig mit den Schultern. „Wenn sie nix taugt, fliegt sie. Da kennt Emma Reiter kein Pardon.“
Jessica fällt die Kinnlade herunter. „Was jetzt?“
„Was dachtest du denn, wo deine Vorgängerin abgeblieben ist?“
„Äh? Vorgängerin?“
„Marsch, Marsch, an die Arbeit.“
„Ach, Anna“, Jessica kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, „gewagte Tattoos.“
„Schschh! Schnauze halten!“, zischt ihre Kollegin mit bitterbösem Blick.
Jessica klemmt ihre Schnute zwischen Mittel- und Zeigefinger ein, bevor sie Leine zieht.
Trotz des sonntäglichen Desasters wäre eigentlich eine Mittagspause mit Sascha besser als gar keine Pause.
˃Hallo, Sascha! Mehr Eis? Jessica ˂
˃Hi, Jessica! Wie geht es deinen Füßen? Dafür das Eis? Sascha ˂
˃Vollgepflastert. Egal, wofür. Jessica ˂
˃Neues Café testen? Sascha ˂
˃Immer. CU. Jessica ˂
„Jessica? Wie übersetzt man Handbetrieb?“, möchte Isabell mittlerweile doch etwas kleinlaut wissen.
„Wo hast du nochmal studiert?“
„In Tübingen.“
„Japanische Literatur?“, tippt Jessica mit ätzendem Unterton.
„Meine Abschlussarbeit habe ich über Sumo-Ringer geschrieben.“
„Wenig hilfreich bei ‚GTN‘.“
Die Neue bekommt einen knallroten Kopf und sieht schnell wieder auf ihren Monitor.
Flüsternd tröstet Isabell sich: „Ist ja nur vorübergehend.“ Sobald ihre Bewerbung an der Universität von Tokio besiegelt ist, wird sie hier jedenfalls schleunigst die Biege machen. „Gebrauchsanweisungen? Megagrottig! Echter Laden für Loser.“
Sascha und Jessica schlendern, ausgerüstet mit Wasserflaschen und Baguettes, über die schattige Seite der Rosenthaler Straße.
Zwischen zwei Bissen nuschelt sie: „Wir sollen heute fast 40 Grad aushalten, hat die Wetter-App behauptet.“
„War schon gut, das Café zu knicken. Die Luft dort war wirklich zum Ersticken. Am liebsten würde ich den Rest des Tages unter der Dusche verbringen.“
„Oder schwimmen gehen.“
„Nenn mir ein Schwimmbad, in dem noch ein Stehplatz frei wäre.“
„Badewanne mit Eiswürfeln.“
„Mutig. Da bräuchte man jemand Anschmiegsames gegen Frostbeulen.“
„Ach ja?“, fragt Jesica keck.
„Bloß besitze ich keine Wanne“, bedauert Sascha.
„Dito“, seufzt Jessica, „aber frau wird ja mal träumen dürfen.“
„Sommerurlaub in Island“, schwärmt er übergangslos.
„Sale out in Paris.“
„Louvre.“
„Lafayette.“
„Gar kein Urlaubstraumziel?“, versucht Sascha ihre Unterhaltung in einen anderen Kanal umzuleiten.
„Tausend Möglichkeiten, keine ist drin.“
„Wieso? Ende des Monats kriegen wir Urlaubsgeld.“
„Bringt mein Konto hoffentlich wieder ins Plus, aber mich keinen Meter weit.“ Elektrisiert begutachtet Jessica das kleine Schwarze im Schaufenster der neu eröffneten Boutique „Ma Belle“, vor der die beiden zufällig stehen geblieben sind. Das wäre mal ein super Outfit für ihren Geburtstag. Spontan scannt sie das mitten auf der Scheibe klebende Piktogramm.
Sascha steht stumm daneben.
Schließlich wendet sie sich ihm, mit einem etwas abwesenden Blick, wieder zu: „Und du? Schon Pläne?“
„Ich habe gerade einen Arabisch-Crashkurs an der VHS abgeschlossen. Die spärlichen Brocken werde ich zwei Wochen lang an Refugees austesten. Am 13. Juli geht es los.“
„Das nennst du Urlaub?“
„Danach fliege ich noch für eine Woche nach Moskau, das Datschendach meiner Großmutter flicken“, erzählt Sascha lächelnd.
„Drei Wochen arbeiten?“ Allein die bloße Vorstellung treibt Jessica auf die Palme.
„Würde ich nicht direkt so nennen, solange mir niemand einen PC vor die Nase knallt.“
„Meiner Nase offenbart sich gerade eine locker doppelt so lange Eisschlange wie vor ein paar Tagen“, verkündet Jessica frustriert.
„Kein Eis?“
„In die Spree springen?“
„Dann doch lieber zurück ins Büro“, lacht Sascha.
Wohin soll das führen? Drei unbearbeitete Aufträge lagern noch im Dateiordner. Müde packt Jessica nach zwei angehängten Überstunden ihre Tasche. Egal, so ausgelutscht gehört sie nach Hause. Punkt, aus, Feierabend. Mit dem Handy in der Hand, macht sie sich auf den Weg zur S-Bahn.
˃ <>|:--LSusan kriegt einen Shamestorm ab. Lina ˂
˃Was hat sie jetzt wieder ausgefressen? Bea ˂
˃Einen Typen auf YT als eierlose Missgeburt beschimpft. Lina ˂
˃Warum das? Jessi ˂
˃Hi, Jessi! Im Bunker getagt??? Kannst du bei Melindas mega ödem Video checken. Lina ˂
Rasch scrollt Jessica die Comments durch.
˃Susan rastet aus, weil sich der Typ ein Try-on-Haul wünscht? Jessi ˂
˃Scharf auf ihre Dessous. Bea ˂
˃Wird Susan jetzt prüde oder was? Jessi ˂
˃Ihr seid gemein. Lina ˂
˃Unser Racheengel ist schon groß… Bea ˂
˃Will sich eine Axt kaufen. ;)Lina ˂
˃Spanner unter die Guillotine. Susan ˂
˃Alle Irren hier sofort in Karls Biergarten! Befehl!!! Caro ˂
˃Eindeutig überfällig! =D>Susan ˂
Nach einigem Hin und Her beschließt Jessica, wenigstens kurz bei ihrer Clique im Biergarten vorbei zu schauen.
Caro sitzt bereits unter einer der alten Kastanien des angesagtesten Mini-Biergartens in Friedrichshain, vor sich ein Halbliterglas mit Eistee.
„Kein Bier? Bist du krank?“, zickt Susan los.
„Hi, Shitti. Stormy Monday vorbei?“
„Alles hirnhohle Wixer da draußen.“
„Komm runter. Solche Flachpfeifen kann frau getrost ignorieren.“
Lina schleppt ein großes Tablett mit noch mehr Eistee an.
Susan beäugt die Gläser argwöhnisch. „Etwa ohne Schuss?“
„Mit, Lulatsch.“
„Alki“, frötselt Caro.
„Wer ist hier ein Alki?“ Jessica und Bea schwingen sich mit auf die lange Bank. Durstig greifen die Zwei nach Gläsern.
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