„Kannst du mal was leiser jammern?“, stöhnt Anna.
„Tschuldigung.“
„Das sind ja ganz neue Töne.“
„Noch Kaffee?“
„Das wäre schon der Dritte.“
Jessica schlurft zum Automaten und zapft zwei doppelte Espresso.
Mit den Worten „Auferstehung von den Toten“ stellt sie ihrer Kollegin eine Tasse hin.
„Wie spät?“
„Ungefähr 10 Uhr.“
„Ich hätte nicht fragen sollen.“
Als Jessica zurück auf ihren Stuhl fällt, entdeckt sie eine Mail von Sascha.
˃Hallo, Jessica! Kennst du das Bistro Shortcut? Könnte man in der Pause testen. Gruß Sascha ˂
„Junge, bin echt nicht in Stimmung. Musst dich schon bis Sonntag gedulden“, brummt Jessica.
˃Hallo, Sascha! Mieser Laden mit Labberkaffee. Hier Auftragsstau. Jessica ˂
˃Ach so. Sascha ˂
Tödliche sieben Stunden später. Eigentlich wäre jetzt Feierabend, Wochenende, Partytime.
„Noch viel?“ Sascha ist neben ihrem Stuhl aufgetaucht und deutet auf den Monitor.
„Ein Albtraum! Diese Montageanleitung verstehe ich nicht einmal auf Deutsch.“
„Na dann, gutes Gelingen. Ich muss los.“
„Bis Sonntag.“ Der Ansatz eines Lächelns missglückt.
Die Monitoruhr zeigt 17 Uhr 30, 18 Uhr, 18 Uhr 30.
„Jessica?! Gibt es Probleme?“
Mario. Der fehlte gerade noch. „Bin wohl fast durch. Ein paar Minuten noch.“
„Ich bin etwas in Eile und wollte eigentlich abschließen.“
So ein Arsch! Sonst will der alles immer sofort erledigt haben. Gleichzeitig registriert Jessica, dass sie ganz allein in dem Großraumbüro hockt.
Stur arbeitet sie weiter. Doch sie spürt ihn förmlich hinter ihrem Rücken herumtigern.
Wo war ich gerade? Ach ja: „Was tun, wenn das Gerät nicht funktioniert.“ Jessica scrollt kurz ans Textende. Fuck, noch volle zwei DIN-A4-Seiten. Dann muss sich der Kunde eben bis Montag gedulden, basta.
„Fertig?“, fragt Mario mit demonstrativem Blick auf seine Smartwatch.
„Soweit.“ Schnell loggt sie sich aus, packt ihren Beutel und lässt sich vom Chef regelrecht vor die Tür scheuchen.
Normalerweise würde sich Jessica um 20 Uhr mit ihrer Clique treffen. Weekly Touchtime. Erbarmen, Ladies, keinen Bock auf nothing. Gähn.
Doch als sie in der S-Bahn zum ersten Mal seit Stunden ihre News checkt, haben ihre Freundinnen bereits entschieden, das Treffen sausen zu lassen. Seit wann sind die abstinent? Oder was geht ab?
Nachdem Jessica am Alex die Marathonstrecke vom Hochbahnsteig der S5 bis unter die Erde zum Bahnsteig der U5 bewältigt hat, twittert sie sich kurz entschlossen erst einmal Wut und Frust von der Seele.
> belle@hell Wer hat auch den # Idiotenbossam Freitag satt? <
Im Sekundentakt laufen Retweets ein. Kichernd liest Jessica, während sie sich in die brechendvolle U-Bahn quetscht.
> Rebell007@Rebell # Idiotenbosskannst du hier täglich haben. :-c <
> YouToMe@MyHeadGetsClear # Idiotenbossecht untertrieben. >:-)Größter Arsch im Universum. <
> Chaosfloh@splknd Bei # Idiotenbosshalte ich locker mit. <
> badforyou@boeserjunge Mein # Idiotenbosskann ab Montag sehen, wer den Scheiß macht. Hahaha! <
> Manu:3//27@ManuMinzer FOAD # Idiotenboss. <
> Wurstbrot@hasel-gmbh Sadistischer # Idiotenbosslässt mich bis Mitternacht schuften. (:-(Warte auf Mitleidsbekundungen. <
> twittstorm@irrelevant LOL, du Wurstbrot. %-Iheftig. Aber mein # Idiotenbosspennt sich durchn Puff. <
Vor ihrer Wohnungstür steht ein riesiges Paket von Zalando. „Meine Belohnung!“ Jessica lässt die Tür hinter sich ins Schloss knallen, hievt den Karton ins Wohnzimmer und schlitzt ihn geübt mit einem Schälmesser auf. Während sie ihre schweißnassen Hände an der Jeans abwischt, kommen ihr Bedenken. „Lieber vor dem Try-on duschen.“
Ihre nassklebrigen Klamotten landen neben der Ledercouch auf dem Boden, bevor sie im Bad verschwindet.
Keine Viertelstunde später greift Jessica im Slip und mit tuchumwickelten Haaren zu. „Das Satin-Cape sah auf dem Foto aber ganz anders aus, hmmh.“ Als sie es sich überstreift, fällt das Cape wie ein Sack an ihr herunter. „Falsche Größe.“ Noch optimistisch, reißt sie das Blusentop aus seiner Verpackung. „Querstreifen? Wer trägt denn sowas? Was soll der Scheiß?“, flucht sie. „Wo ist der verdammte Lieferschein?“ Kurzerhand kippt sie den ganzen Kartoninhalt aus.
„Da, mal sehen. Größe 44? Alles? Sind die bescheuert?“ Zufällig fällt ihr Blick auf den Empfänger: Janine Köhler, Ruschestraße 20, 10365 Berlin. „Das glaube ich jetzt nicht. Der saudämliche Paketbote hat vor die falsche Wohnung geliefert.“
Vollends entnervt lässt sich Jessica der Länge nach auf das herrlich kühle Couchleder fallen. Kurz simst sie den Flopp des Abends an ihre Clique und schläft wenige Minuten danach ein.
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Status:Update 28-06-2016/ Jaensch/Jessica
GPS:
Rosenthaler Str. 48 / Hackescher Markt / Frankfurter Allee 111 / Ruschestr.20
Email/SMS/Chat/Tweet:
01:32 >Titten raus, Schlampe…SNF<
01:39 >Peperoni-Nutte?!<
01:40 >Schieb mal geile Nummer-lechz<
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08:12 ”Reiter/Emma”
Content: >Hallo, Jessica!< …details
08:13 ”Ruben/Theo“
Content: >Hallo, Frau Jaensch!< …details
10:00 >Kennst du das Bistro Shortcut? …details
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18:06 >Touch sausen lassen? Bea<
18:22 >Jessi? Your vote??? Caro<
18:58
Tweet: >Wer hat auch den #Idiotenboss am Freitag satt?<
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21:27 >ROFL!!! Fette Nachbarin quetscht Elefantenarsch in Tangas…! Jessi<
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Mobil surfen:
WhatsApp / Google / Twitter / Facebook …details
Home surfen:Alert!
Status:Mikrofon aktiv/Kamera aktiv
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Voll fit springt Jessica von der Couch. „Wieso ist es so dunkel? Und wo ist mein Handy?“ Ihre Augen wandern über das vorabendliche Chaos im Wohnzimmer, dann zum Fenster. Dicke Regentropfen rinnen an den Scheiben herunter. „Echt mies für Bea, so ein Sauwetter an ihrem Geburtstag.“
Nach einiger Sucherei findet sie ihren Beutel mit dem Smartphone. Erst Kaffee oder erst updaten? Kriegt frau locker gleichzeitig hin. „17 SMS? Ist die Welt untergegangen oder wie?“
Während die Kaffeemaschine röchelt, wird ihr Gesicht immer länger. Die übrigen Mädels waren gestern Abend im Kino. Ohne Jessica. Hinterher beim Thai, auch ohne sie. Zur Krönung der Sauerei sind die Vier noch in einer Kreuzberger Kneipe mit „wahnsinnig toller Live Band“ versackt. Jede Menge schräge Fotos dazu auf Flickr.
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