„Vorher-nachher-Selfie, so viel Zeit muss sein“, bettelt Bea. Schnell reicht sie ihrer Freundin das eigene Smartphone.
Mit schielenden Augen drückt Jessica den Auslöser.
Bea postet auf Facebook: “After before partytime”.
Los kommt Jessica erst, als das Endresultat daneben gepostet ist.
Sofort jagen sich die Comments:
>Sauforgie? <
>Neid!!!!!! -=#:-) <
>Wie habt ihr das hingekriegt? <
>Gut für uns Jungs mal zu sehen, wie ihr wirklich ausseht :-> <
> :-! <
> 8-] <
>Wo hängt die denn ab? <
>Haul wäre toll gewesen <
>Welche Tools? Dringend!!!! <
Ein Gutes hatte die Kamikaze-Aktion bei Bea. Als Jessica mit geliehenen Geld ihr Taxi bezahlt, kann sie einigermaßen bis Drei zählen. Auch wenn sich damit prompt die erste, unangenehme Frage aufdrängt: Um welche Ausstellung geht es eigentlich? „Wieso habe ich das nicht vorher gegoogelt?“ Da entdeckt sie Sascha auf einer Bank in dem kleinen Museumsgarten. Wer ist die Schwarzhaarige, mit der er sich so lebhaft unterhält? „Hallo.“
„Hi, Jessica. Meine Schwester ist zu Besuch in Berlin. Sie möchte diese Ausstellung auf keinen Fall verpassen.“
„Hallo. Ich bin Kira.“ Kurz schüttelt sie Jessica die Hand, dann sieht Kira auf ihre Armbanduhr. „Wir sollten uns beeilen. Um 18 Uhr wird dicht gemacht.“
„Smartwatch?“, nickt Jessica zu der schicken Uhr.
„Ich bin doch nicht bescheuert“, lacht Kira kopfschüttelnd.
Aber Jessica ist mit ihren lahmen Gedanken noch woanders beschäftigt. Date zu Dritt? Volle drei Stunden für eine Ausstellung? Wo bin ich denn hier? Sie sehnt sich nach ihrem Bett.
Auf dem Weg in den Hamburger Bahnhof schnappt Jessica „Nationalsozialismus“ auf. Mit Mühe unterdrückt sie einen mürrischen Kommentar.
Der Rundgang durch die Ausstellung verläuft, gelinde ausgedrückt, zweitönig. Sascha tauscht sich mit seiner Schwester angeregt über Werke, Künstler und die dramatischen Ereignisse dieser Zeit aus. Dagegen steuert Jessica kaum mehr als „ach ja, wusste ich gar nicht“ bei. Ihr stumm geschaltetes Handy hält den Kontakt zur Welt.
Währenddessen mutieren ihre Highheels – die anderen Beiden tragen bequeme Sneakers – zu martialischen Folterwerkzeugen. Bei jedem neuen Werkstopp brüllt es von Fuß bis Kopf: Ich will hier raus!
„Du bist reichlich blass.“ Sascha betrachtet sie besorgt von der Seite.
„Frische Luft käme gut.“
„Draußen gibt es eine kleine Caféterrasse. Willst du schon mal hingehen und wir kommen später nach?“
„Wenn das für euch in Ordnung ist?“
„Mach ruhig.“
„Okay, bis gleich.“ Erleichtert trippelt Jessica wie auf rollenden Eiern davon.
Kira blickt ihr kurz nach. „Noch immer ein Faible für hoffnungslose Fälle?“
„Kein Kommentar.“
Zwei Cappuccino plus ein Stück leckerer Apfelkuchen später sitzt Jessica surfend an ihrem schattigen Tisch, als die Geschwister auftauchen. Die Highheels parken unter ihrem Stuhl.
Kira steht die Begeisterung ins Gesicht geschrieben. „Faszinierende Ausstellung. Dafür, dass ihr mich mitgenommen habt, spendiere ich den Kaffee.“
„Geht es dir besser?“ Sascha setzt sich Jessica gegenüber.
„Fast wieder fit“, übertreibt Jessica schamlos. Automatisch schiebt sie dabei das Smartphone in ihre Handtasche.
„Könnte dein Handy auch länger dort bleiben?“
„Wieso?“
Mit verschmitztem Lächeln erwidert er: „Ich würde dich gerne zum Essen in ein besonderes Restaurant einladen.“
„Heute?“, fragt Jessica erschrocken.
„Aha, keine gute Idee.“
„Nimm es mir nicht übel. An jedem anderen Tag supergerne.“
Davon ermutigt, wagt sich Sascha nochmals vor. „Nächsten Samstag?“
Jessica fühlt sich bereits unendlich mies, bevor sie zerknirscht antwortet: „Öhem, da ist mein Geburtstag.“ Schnell schießt sie hintendrein: „Magst du dich eventuell abends meiner Clique anschließen? Wir gehen zuerst in ein schickes Restaurant, danach wird im Klub gefeiert.“
„Warum nicht?!“ Eine gewisse Verunsicherung, worauf er sich da einlässt, schwingt deutlich mit.
„Möchtest du mitkommen?“, richtet sich Jessica notgedrungen an seine Schwester.
„Nett von dir. Aber Partys finde ich eher verzichtbar.“
„Du kannst es dir ja noch überlegen. Jedenfalls sollte ich langsam den Heimweg antreten.“ Mit den Füßen angelt sie nach ihren Highheels, versucht hinein zu schlüpfen, und ein lautes „Au“ flutscht ihr heraus.
Sascha und Kira sehen sie überrascht an.
„Falsche Schuhe, paar Blasen gelaufen.“ Vorsichtig erhebt sich Jessica von dem Stuhl, beißt die Zähne zusammen und humpelt, „man sieht sich“ winkend, in Richtung des Hauptbahnhofs davon. Denn für ein Taxi nach Hause reicht ihr geborgter Bargeldbestand wohl kaum.
Schnaufend auf dem nächstbesten Sitzplatz in der S-Bahn gelandet, lädt sie den aufgestauten Frust bei ihrer Community ab.
>Nie wieder Museumsdate! Und dann war auch noch seine Schwester dabei!!!!!!!! ~X(Jessi <
>Is wahr?!?!?! Bea <
>Dein Sascha ist ja echt mega… Caro <
>Zumindest etwas speziell … Jessi <
>Etwas??????? L-)Kick weg! Laura <
>Und die Ausstellung? Meggy <
> :-CSupergruftig!!!!!!!! Jessi <
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Status:Update 30-06-2016/ Jaensch/Jessica
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…Pappelallee 41 / Invalidenstr. 50 / Hauptbahnhof / Lichtenberg / Ruschestr. 20 …show more
Email/SMS/Chat/Tweet:
14:08 >Sauforgie?<
…show more
14:46 >Neid!!!!!<
…show more
17:51
Comment: >#Ekelhaft! Koch ins Gesicht gepfeffert?<
18:48 >Nie wieder Museumsdate! ...details
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Foto:
14:05 Facebook
>After before Partytime< show photo
14:44 Facebook
>After before…APPLAUSE!< show photo
Mobil surfen:
WhatsApp / Pinterest / Deezer / YouTube / Facebook / Wherecoolthingshappen …details
Home surfen:Alert!
Status:Mikrofon aktiv/Kamera aktiv
YouTube / Netflix …details
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Montag, 1. Juli. „Warum habe ich nicht gekündigt?“ Komplett angenervt hockt Jessica an ihrem Arbeitsplatz. Gerade war ihre neue Kollegin, Isabell, zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Vormittag bei ihr angetanzt.
Mal weiß Isabell eine Übersetzung nicht, mal stürzt ihr das Programm ab, mal sucht sie die Toilette, mal hat sie den Kundenkontakt gelöscht, mal will sie den Kaffeeautomaten erklärt bekommen.
In den letzten zwei Stunden hat die garantiert keine zehn Minuten stillgesessen , motzt Jessica still vor sich hin. Und dann im Minutentakt dieser enervierende Klingelton ihres Handys. Was soll das darstellen? Reifenquietschen und Auspuffknaller?
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