„Liebe Julia, kannst du heute bitte einmal bei mir vorbeikommen?“, fragte sie frei raus und hustete dann fürchterlich. „Ich möchte dir gerne etwas geben. Mir ging es heute Nacht ganz elend – so elend, dass ich dachte, der Herrgott würde mich holen wollen.“
Oh je, das klang ja ganz schlecht. Ich warf mir den Mantel über, sprang ins Auto und fuhr in das Wohnstift und tatsächlich: Sie war nicht einmal angezogen und lag nur mit ihrem weißen Bademantel bekleidet auf dem Sofa.
Als sie mich sah, zog sie sich zum Sitzen hoch, nahm einen Schlüsselbund aus ihrer Bademanteltasche und gab ihn mir. „Nimm bitte diesen Schlüssel und schließ damit den Safe auf“, bat sie mich. „ Bring mir dann bitte die schwarze Kiste, die darin steht.“
Ich hatte ein mulmiges Gefühl, als ich die große schwarze Lederkiste vor uns auf den Wohnzimmertisch stellte. Tante Sophie öffnete mit zittrigen Händen das kleine Schloss, machte den Deckel auf und jede Menge wunderschöne Schmuckstücke -Ketten, Ringe, Ohrringe, Broschen und sogar ein glänzender kleiner Goldbarren- kamen zum Vorschein.
„Ich möchte dir alles jetzt schon geben. Ich brauche es ja nicht mehr.“
Ich war geschockt und den Tränen nahe. Nein, das wollte ich nicht. Es war wie ein endgültiger Abschied und ich weigerte mich.
Sie bestand darauf: „Klar - du musst ihn nehmen, und ich bitte dich, mach mir die Freude und trag ihn auch. Er wird wunderschön an dir aussehen. Nur meine goldene Uhr, die möchte ich erst noch ein bisschen behalten, die bekommst du dann später. Nur leider ist die Batterie alle.“
Das war das geringste Problem: Ich nahm sie, verließ die Wohnung und ließ sie bei einem nahegelegenen Uhrmacher wechseln.
Als ich nach ungefähr einer halben Stunde wieder in ihre Wohnung zurückkam, hatte sie sich in dieser Zeit trotz ihrer Schwäche vom Sofa erhoben, mühsam mit dem Rollator zum Safe gequält und die Schmuckkiste wieder dort eingeschlossen.
„Nun, es kann doch sein, dass jemand mir den Schmuck wegnimmt, wenn ich hier hilflos auf dem Sofa liege“, versuchte sie zu erklären.
Ich war überrascht, dass sie derart misstrauisch geworden war. Ich war doch nur kurz weg gewesen, und die Wohnung war immerhin abgeschlossen gewesen.
Dann drängte sie mich wieder, das Schmuckkästchen an mich zu nehmen, und ich erklärte mich sehr widerstrebend bereit, es für sie aufzubewahren, bis es ihr wieder besser gehe.
„Morgen kommen Herr Stark und seine Frau nachmittags zum Kaffee zu Besuch“, erwähnte sie unvermutet.
Da ich Herrn Stark auf Tante Sophies Geburtstagfeier wenig sympathisch gefunden und auch seine herrschsüchtige Art dort nicht gemocht hatte, wollte ich ihm nicht unnötig begegnen. Ich beschloss, einen Tag verstreichen zu lassen und mich erst am folgenden Tag, also dem Montag, wieder bei ihr nach ihrem Gesundheitszustand zu erkundigen.
Schon früh am Morgen stand ich vor ihrer Wohnungstür und klingelte.
Sie öffnete und empfing mich unwirsch: „Was willst du denn schon wieder hier?“
Nach dieser unerwarteten, unfreundlichen Begrüßung wäre ich am liebsten sofort wieder umgekehrt und gegangen. Aufdrängen wollte ich mich wirklich nicht und hatte eigentlich andere Dinge zu tun.
Doch ich erwiderte freundlich: „Dir ging es am Samstag so schlecht, da wollte ich mich nur vergewissern, ob es dir heute wieder besser geht.“
Mit ihrem Rollator ging sie wieder zurück zu ihrem Sessel, setzte sich und jammerte verzweifelt: „Ich kann meinen Schlüsselbund nicht finden und mein Blutdruckmessgerät ist auch weg.“
„Er kann doch nicht weg sein“, antwortete ich. „Wir werden ihn bestimmt finden. Wann hast du den Schlüsselbund denn das letzte Mal gehabt?“
„Gestern als Starks da waren. Sie haben ihn bestimmt mitgenommen.“
Herr Stark war mir zwar unsympathisch, aber weshalb um alles in der Welt sollte er ihren Schlüsselbund mitnehmen?
Sie war total außer sich. „Du weißt nicht, was er gestern getan hat“, deutete sie geheimnisvoll an. „Aber nein, ich darf dir das nicht sagen.“
„Wenn du meinst, Herr Stark habe ihn versehentlich eingesteckt, ruf ihn doch einmal an und frag nach“, schlug ich ihr vor, was sie auch sofort tat.
Doch ich war überrascht: Eben war sie noch aufgewühlt gewesen, fast aggressiv.
Als sich aber nun Frau Stark am Telefon meldete, war Tante Sophie plötzlich wieder komplett verwandelt und gab sich nahezu so freundlich wie immer: „Entschuldige die Störung, liebe Brigitte. Ich vermisse heute meinen Schlüsselbund und wollte nachfragen, ob ihr ihn vielleicht gestern eingesteckt habt.“
Da Frau Stark offenbar auch keine hilfreichen Angaben über den Verbleib des Schlüsselbunds machen konnte, suchte ich einfach weiter, während sich Tante Sophie höflich von ihr verabschiedete.
Nach kurzer Zeit fand ich in der Tat das Blutdruckmessgerät, das die Pflegerin wohl vom Tisch auf den Stuhl gelegt hatte, und kurz darauf entdeckte ich auch den Schlüsselbund, der sich versehentlich noch in der gleichfarbigen Hose befunden hatte, die Tante Sophie am Morgen in den Waschkorb gegeben hatte.
Tante Sophies Unmut war im Nu wie weggeblasen, und sie war unendlich dankbar, dass die verlorengegangenen Dinge wieder aufgetaucht waren.
Nun widmete ich mich wieder dem eigentlichen Grund meines Kommens: Ihrem Gesundheitszustand, und der war offenkundig sehr schlecht. Es war erkennbar, dass ärztliche Hilfe unbedingt notwendig war: Sie hustete schwer und ihr Atem rasselte. Da sie auf keinen Fall wieder ins Krankenhaus wollte, vereinbarte ich am Nachmittag einen Termin bei einer nahegelegenen Ärztin, und Tante Sophie ließ sich darauf ein.
Wie unendlich schwer war für sie die kleine Strecke von der Wohnung runter zum Auto und dann erst der Weg vom Auto aus die Treppen hoch bis in die Arztpraxis. Wir mussten ansitzen und lange warten, bis wir endlich an der Reihe waren.
Wie von mir befürchtet, diagnostizierte die Ärztin eine Lungenentzündung, erklärte sich aber dazu bereit, diese hausärztlich im Wohnstift zu betreuen. Tante Sophie war glücklich, wieder in ihre Wohnung zurückkehren zu dürfen.
Anschließend besorgte ich für sie die notwendige Medizin, Obst, Säfte und Suppen, wie die Ärztin verordnet hatte.
„Ich bin dir ja so dankbar“, begrüßte sie mich wieder, als ich mit meinen Einkäufen zurückkam und erstattete mir sogleich meine Auslagen. „Ich habe noch eine Bitte an dich: Bitte, nimm mein wertvolles Silbergeschirr mit, bevor er sich das auch noch nimmt.“
Tante Sophie deutete mit einer Handbewegung auf die Silberschale, die Silbervase und die dazugehörige Silberkanne, die zur Dekoration auf ihrem Wohnzimmerschränkchen standen. Während ihres Umzugs in das Wohnstift hatte sie mir anvertraut, dass ihr diese Prachtstücke besonders am Herzen lagen, da sie einst Geschenke ihres Mannes gewesen waren. Für Tante Sophie überwogen daher zweifellos die immateriellen Werte des Silbergeschirrs, und trotzdem wollte sie sich so überstürzt davon trennen?
Ich war völlig sprachlos. Wie kam sie darauf, dass er, vermutlich meinte sie den von ihr ehemals so sehr verehrten Pastor Stark, gegen ihren Willen ihr Silbergeschirr an sich nehmen sollte? Jetzt übertrieb sie aber doch etwas mit ihrem Misstrauen, fand ich und weigerte mich, es einzustecken, zumal es für sie mit vielen schönen Erinnerungen verbunden war. Sie war zwar nicht zufrieden damit, hatte aber nicht mehr die Kraft zu diskutieren.
Leider war es nur wenige Tage möglich, einen erneuten Krankenhausaufenthalt zu vermeiden.
Ich war gerade im Auto auf dem Weg zum Einkaufen, als mich der Anruf der behandelnden Krankenhausärztin erreichte: „Ihre Tante ist heute hier eingeliefert worden. Sie hat berichtet, dass Sie die Patientenverfügung haben, und ich möchte Sie daher bitten, zur Aufnahme der Personalien möglichst schnell ins Krankenhaus zu kommen.“
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