Tante Sophie war total überrumpelt. Ich warf einen Blick auf den auffällig großen Kasten mit dem schweren, gewölbten Deckel. Nun, die Truhe war bestimmt einmal höllisch teuer gewesen, und eigentlich war sie ein wirklich schönes Stück, aber weder Tante Sophie noch ich konnten sie in unserer Wohnung unterbringen.
„Ja, dann nehmen Sie nur…“, stimmte sie dann hilflos zu. „Ich habe sowieso keinen Platz mehr dafür.“
Obwohl das stimmte, ärgerte ich mich über den Möbelpacker. Er hatte ganz dreist die Überforderung der alten Dame durch den Umzug für seine Zwecke ausgenutzt. Da es ihre eigene Wohnung war, bestand überhaupt gar keine Eile die restlichen, dort verbleibenden Möbelstücke schnell loszuwerden. Wir hätten sie in aller Ruhe verkaufen oder Freunden eine Freude damit machen können. Verärgert musste ich beobachten, wie die Männer ihr wertvolles Beutestück als allererstes in den Möbelwagen schleppten, bevor sie nur einen Finger für Tante Sophie krumm machten. Ich versuchte aber mir nichts anmerken zu lassen, schließlich waren wir in den nächsten Stunden auf das Wohlwollen dieser Leute angewiesen. Was half es uns, wenn sie im Gegenzug nur „Dienst nach Vorschrift“ machten und spontan auftretenden Problemen und Aufgaben wenig flexibel gegenüber standen?
Es gelang mir, glaube ich, diesen für meine Tante großen Meilenstein ihres Lebens, den voraussichtlich letzten Umzug, doch noch halbwegs angenehm zu gestalten. Bis spät nachts räumte ich ihre letzten Umzugskartons aus, um ihr das neue Heim so schnell und schön wie möglich gemütlich einzurichten.
Sie lebte sich in ihrer Wohnung in dem Wohnstift, glaube ich, auch gut ein, zumindest hörte ich nie ein Wort des Bedauerns.
Ein weiteres Jahr verging, und sie hielt sich an unsere Abmachung: Sobald etwas Ungewöhnliches geschah und sie Hilfe benötigte, rief sie mich an und teilte es mir mit.
Anfang September läutete wieder das Telefon und Tante Sophie meldete sich, um mich über die neuesten Entwicklungen zu informieren: „Ich wollte dir nur kurz mitteilen, dass ich morgen ins Theresienkrankenhaus gehe. In den letzten Wochen habe ich große Schmerzen im Unterbauch gehabt. Der Chefarzt Dr. Pohl hat mit mir geschimpft, weil ich die von ihm dagegen verschriebenen Medikamente nicht regelmäßig genommen habe und hat mich jetzt aufgefordert, zur medikamentösen Einstellung eine Woche zu ihm ins Krankenhaus zu kommen. Bitte kümmere dich weiter um deine Familie und besuch mich nicht. Du weißt ja, ich möchte das nicht so gern.“
Das klang nicht akut besorgniserregend, und ich hielt mich wie versprochen an die Abmachung, sie nicht zu besuchen.
Die Woche verging wie im Flug. Am Donnerstag rief mich meine Schwiegermutter an, die meinen damals schwer krebskranken Schwiegervater, der zufälliger Weise zu der Zeit in dem gleichen Krankenhaus untergebracht war, besucht hatte.
„Stell dir mal vor, wen wir im Krankenhauscafé getroffen haben: Deine Tante Sophie“, erzählte sie. „Wir haben gemeinsam Kaffee getrunken, Kuchen gegessen und uns dabei ganz reizend unterhalten. Sie hat sich darüber beschwert, dass ihr im Krankenhaus keiner helfen konnte. Sie meint, ihr Aufenthalt dort ist somit völlig sinnlos und kostet den Krankenkassen nur Geld. Darum hat sie beschlossen, spätestens am Samstag auf eigenen Wunsch hin entlassen zu werden. Sie ist wirklich trotz ihres hohen Alters noch wahnsinnig fit, deine Tante Sophie, und sie weiß, was sie will.“
Ich hatte deshalb keinen Anlass, mir Sorgen zu machen. Zwar wunderte ich mich etwas, dass sich Tante Sophie am Wochenende nicht wieder bei mir zurückmeldete. Vielleicht hatte es mit der vorzeitigen Entlassung ja doch nicht so geklappt, wie sie es sich vorgestellt hatte. Mario und ich kennen es nur zu gut aus Krankenhäusern, dass man die meiste Zeit mit stundenlangem, Nerv tötendem Warten verbringen muss, ehe ernsthaft etwas geschieht. Verzögerungen sind da an der Tagesordnung.
Völlig überrascht war ich daher, als ich am Montagabend auf dem Geburtstag meines Schwiegervaters, der seinen letzten Ehrentag nochmals zu Hause feiern wollte, unvermittelt einen Anruf aus dem Krankenhaus auf meinem Handy erhielt: „Frau Reber hat mich gebeten, Sie anzurufen. Ihr geht es außerordentlich schlecht, und sie bittet Sie, so schnell wie möglich hier vorbeizukommen.“
Wie konnte es nur innerhalb so kurzer Zeit so unvermutet zu einer derartigen Verschlechterung ihres Zustandes kommen? Fluchtartig fuhren wir von der Geburtstagsfeier aus direkt ins Krankenhaus.
Ich hasse diese Krankenhausbesuche! Zu oft habe ich nach der Frühgeburt von Mario diese schwach ausgeleuchteten, endlos langen, leeren Gänge gehen müssen, ängstlich besorgt, welche schlechten Nachrichten und Kummer nun wieder auf mich warten würden – aber nur nichts anmerken lassen. Ein Todkranker darf die Sorgen und die Angst seiner Mitmenschen nicht spüren! Also schlucken, stark sein, lächeln und Optimismus ausstrahlen, auch wenn es schwer fällt!
Die letzte Tür im Gang führte zu Tante Sophies Zimmer. Es war das Sterbezimmer, wie ich von meiner Mutter wusste. Kurz durchatmen und dann klopfen. Keine Antwort. Ich öffnete also trotzdem die Tür und sah sie: Schwach war sie, etwas geistesabwesend und verwirrt, aber sie erkannte mich und freute sich offensichtlich sehr, mich zu sehen.
„Ich habe die Krankenschwestern so oft gebeten, dass sie dich anrufen und dir Bescheid geben, aber keine hat mich ernst genommen“, jammerte sie.
Sie tat mir so unendlich leid – so schwach, ausgeliefert und verletzlich.
„Morgen komme ich wieder“, versprach ich ihr. „Wir werden dann gemeinsam mit dem Arzt sprechen und versuchen zu klären, was mit dir in den letzten Tagen geschehen ist. Mach dir also keine Sorgen mehr, ich bin jetzt ja da.“
Erleichtert schloss sie die Augen und schlief ein.
Vorsichtshalber ging ich danach noch einmal zum Schwesternzimmer, um mich zu vergewissern, dass wenigstens diesmal, wie vorab besprochen, meine Personalien vollständig in Tante Sophies Patientenakte vom Chefarzt weitergegeben und aufgenommen worden sind. Ich war schon ein wenig sprachlos und entsetzt, dass das wieder nicht geschehen war. Das konnte ja wohl langsam kein versehentlicher Fehler mehr sein! Langsam gewann ich den Eindruck, dass es Absicht war, dass ich nicht informiert wurde. Gott sei Dank hatte Tante Sophie in ihrer Handtasche wenigstens ein kleines Kärtchen mit meiner Adresse und Telefonnummern gehabt, das sie der Krankenschwester in ihrer Not gegeben hatte, damit sie mich anrufen konnte. Jetzt war es aber endgültig an der Zeit, den Herrn Doktor am nächsten Tag bei der Visite persönlich zu fragen, weshalb ich abermals nicht von Tante Sophies schlechtem Zustand informiert worden war.
Am nächsten Morgen war ich schon relativ früh im Krankenhaus, weil nicht genau klar war, wann die hohen Herren ihre Visite abhielten.
Tante Sophies Gesundheitszustand hatte sich über Nacht nochmals verbessert, und sie hatte bereits meinem Besuch entgegengefiebert.
„Rede du doch bitte heute für mich mit Dr. Pohl und frag ihn, warum es mir so schlecht gegangen ist“, bat sie mich verzweifelt. „Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern. Ich höre doch ohne mein Hörgerät so schlecht, und hier nimmt mich im Augenblick sowieso niemand ernst.“
Das war das erste Mal, dass ich sie in ihrem Namen vertreten sollte, und ich wusste ihr Vertrauen sehr zu würdigen.
Wir mussten noch eine ganze Weile warten, bis es endlich an der Tür klopfte, und Herr Dr. Pohl samt Visitenanhang das Krankenzimmer betrat. Er war eigentlich nicht unfreundlich, vielleicht für einen Arzt ein wenig zu aalglatt und zu mitfühlend und mitleidig, als wenn er sich mit jemandem unterhielte, der etwas schwer von Begriff wäre.
„Was genau zu dem plötzlichen Absturz geführt hat, kann ich Ihnen auch nicht erklären“, antwortete er mir auf meine Frage nach der Ursache von Tante Sophies schlechtem Gesundheitszustand immerhin ehrlich. „Vielleicht hat sie zu viele Medikamente gleichzeitig genommen, die sich gegenseitig nicht vertragen haben oder es waren Nebenwirkungen eines Medikamentes. Klar ist jedoch, dass sie am Donnerstagnachmittag plötzlich in ihrem Zimmer zusammengebrochen ist und in ein lebensbedrohliches, tagelang andauerndes Delir verfallen ist und mit dem Tod gekämpft hat.“
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