Typisch Tante Sophie – wollte mal wieder keinem zur Last fallen. Wir verabschiedeten uns, aber als ich den Hörer aufgelegt hatte, war mir klar, dass ich Tante Sophie nicht einfach im Stich lassen konnte. Da konnte sie sagen, was sie wollte: Ich würde einfach zu ihrer Wohnung fahren und mir dort an Ort und Stelle ein Bild machen, ob und wie ich ihr helfen könnte.
Auf mein Klingeln hin öffnete eine nervöse und aufgeregte Tante Sophie die Tür. Der Unfall war eindeutig nicht so spurlos an ihr vorbeigegangen, wie sie vorgegeben hatte. Aber sie freute sich riesig über mein Kommen und war den Tränen der Rührung und Freude nahe. Sogleich holte sie leckere Säfte, Kekse und andere Köstlichkeiten und erklärte mir ausführlich den Unfallhergang. Verletzt war sie nicht, aber ihr Auto hatte etwas abbekommen.
„Soll ich dein Auto für dich in die Werkstatt fahren?“, erkundigte ich mich in der Hoffnung wenigstens ein wenig behilflich sein zu können.
„Das würdest du wirklich für mich tun? Das wäre wirklich lieb von dir“, antwortete sie sofort begeistert.
Gemeinsam verließen wir also ihre Wohnung und gingen zu ihrem Auto, das zwar einen deutlichen Unfallschaden aufwies, aber noch fahrbereit war. Ich setzte mich auf die Fahrerseite, um das kleine Auto zu starten, und Tante Sophie nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Als ich gerade den Zündschlüssel drehen wollte, fiel mein Blick auf das Schaltgetriebe: „Oh nein“, entfuhr es mir, „Automatikschaltung!“
Noch nie im Leben war ich vorher ein derartiges Getriebe gefahren und hatte ein ganz ungutes Gefühl, das ausgerechnet bei einem fremden Unfallwagen auszuprobieren.
“Kein Problem, liebe Julia“, meinte Tante Sophie sofort. Sie hatte wohl durch meine Anwesenheit wieder neue Zuversicht geschöpft: „Wenn ich mein Auto fahre, könntest du dann mit deinem hinterherfahren?“
Ich hatte ein ganz schlechtes Gewissen. Da war ich ja wirklich eine tolle Hilfe: Erst große Versprechungen und dann das! Tante Sophie fuhr aber ihr stählernes Sorgenkind ganz souverän in die Werkstatt, veranlasste dort das Notwendige und ließ sich anschließend von mir wieder nach Hause kutschieren.
Trotz allem war Tante Sophie wahnsinnig dankbar – einfach, dass ich spontan gekommen war, ungefragt meine Hilfe angeboten hatte und für sie da war. Dieser Tag hatte unsere Beziehung zueinander endgültig verändert. Wir hatten erkannt, dass wir uns in vielerlei Hinsicht sehr ähnelten und einander uneingeschränkt vertrauen konnten. Es war der Beginn einer wirklichen Freundschaft.
In diesem Jahr gehörten mein Mann André, Mario und ich auch erstmals zu den Auserwählten, die zu Tante Sophies Geburtstagsfeier in ein vornehmes Restaurant eingeladen worden waren. Ich empfand das als große Ehre nunmehr offenbar auch zu Tante Sophies Vertrauten zu gehören. Neben einigen nahen Verwandten, die ich natürlich auch kannte und sehr mochte, hatte sie zusätzlich noch die gesamte Familie von Pastor Stark einschließlich Kindern und Enkelkindern eingeladen, mit der sie wohl durch ihr intensives Engagement in der Kirche im Laufe der Jahre eine engere Beziehung aufgebaut hatte.
Pastor Stark war in jener Zeit in unserer Stadt eine äußerst prominente Persönlichkeit. Mit seinen mitreißenden Andachten in der Kirche scharte er die Gläubigen nur so um sich. André und ich hatten in jungen Ehejahren seinen Gottesdiensten selbst oftmals gelauscht, und die Termine häufig sogar extra so ausgewählt, dass wir seine Ansprachen hören konnten. Sie hatten in der Tat etwas Packendes und hoben sich durch Pastor Starks Wortgewalt von den gewöhnlichen Reden deutlich ab. Das war jetzt aber das erste Mal, dass ich Pastor Stark persönlich und privat kennenlernen sollte.
Wir sahen ihn schon von weitem, als er mit seiner Familie aus seinem großen, dunklen Auto ausstieg, das er dreist direkt in der Halteverbotszone der Feuerwehrzufahrt vor dem Restaurant geparkt hatte.
„Für eine so hochstehende Persönlichkeit scheinen Verkehrsregeln aber offenbar nicht zu gelten“, meinte André wütend, der sowieso schon davon genervt war, dass wir stundenlang nach einem ordnungsgemäßen Parkplatz hatten suchen müssen.
Dass sich ausgerechnet ein Mann der Kirche so gewissenlos und mutwillig über die geltenden Verkehrsregeln und Schutzvorschriften hinwegsetzte, fand ich schon etwas befremdlich. Dieser kleine Vorfall schwächte umgehend meine einstige Begeisterung über ihn erheblich ab.
Als Pastor Stark gemeinsam mit uns das Restaurant betrat, richteten sich augenblicklich alle Blicke auf ihn. Mit selbstbewusster, lauter Stimme begrüßte er die neugierig und ehrfürchtig auf ihn starrenden, anwesenden Gäste und rauschte mit festem Schritt durch die Räumlichkeiten des Restaurants in den etwas separat liegenden Raum, der für die Geburtstagfeier vorbereitet war.
Natürlich hatte Tante Sophie für ihn und seine Familie die Ehrenplätze an der Tafel vorgesehen. Schließlich war Pastor Stark ja auch eine Berühmtheit in unserer Stadt und Tante Sophie war sichtlich stolz darauf, dass diese Prominenz an ihrem Ehrentag erschienen war.
Trotzdem tat Tante Sophie mir an jenem Geburtstag irgendwie leid. Sie saß zwar am anderen Ende der Tafel zwischen Eva und Frau Stark, aber keiner von beiden unterhielt sich angeregt mit ihr. Sie schienen sich offensichtlich nicht viel zu sagen zu haben. Tante Sophie versuchte durch ein Dauerlächeln vorzugeben, dass ihr die Feier gefiele, jedoch konnte ich mir das kaum vorstellen.
War es Pastor Starks dominantes, überhebliches Verhalten, das plötzlich so eine Antipathie gegenüber seiner Person, die ich selbst noch vor kurzer Zeit bewundert hatte, bei mir auslöste? Oder war es dieses ungute Gefühl, dass er die Dinge, die er persönlich für richtig hielt, rücksichtslos über alle Köpfe hinweg durchzog?
Dem vermeintlichen Höhepunkt des Abends, einer Rede des allerorts bewunderten Pastor Stark, folgte ich daher mit großer Skepsis und mangelnder Begeisterung. Immer wieder hob er die außerordentliche Freundschaft seiner Familie zu Tante Sophie derart hervor, dass es mir fast schon ein wenig übertrieben schien. Ich muss aber gestehen, dass ich etwas voreingenommen war.
„Warum hat Tante Sophie denn ausgerechnet Familie Stark eingeladen?“, wunderte sich André, als wir wieder zurück zum Auto gingen. „Woher kennt sie die denn überhaupt so gut? Pastor Stark ist doch ein gefragter Mann in der Stadt. Da bin ich doch überrascht, dass er für Geburtstagsbesuche Zeit findet.“
„Du weißt doch, dass Tante Sophie in der Schlosskirche sehr engagiert ist und für Pastor Stark dort eine große Unterstützung ist“, versuchte ich trotz meiner eigenen Vorbehalte eine Erklärung zu finden. „Seit einigen Jahren ist sie wohl enger mit der Familie befreundet“.
„Das finde ich aber schon ein wenig eigenartig“, entgegnete André. „Eins ist aber klar: Nach dem reichen Alkoholgenuss, den sich Herr Stark heute Abend genehmigt hat, würde ich auf jeden Fall mein Auto stehen lassen“, ergänzte er und deutete in die Richtung von Herrn Stark, der gerade dabei war, sich hinter das Steuer zu setzen.
In den folgenden Jahren unternahmen wir immer wieder gemeinsame Vergnügungsfahrten mit Tante Sophie in das Umland, an denen wir alle viel Freude hatten. Ob Fahrten mit dem Floß oder Tretboot, mit der alten, schwarzen Dampflok, Ausflüge in die Heide oder in die Berge – ständig überlegten wir uns neue Unternehmungen.
So sehr Tante Sophie aber auch unser Beisammensein und unsere Ausflüge sicherlich genoss, ich hatte weiterhin den Eindruck, dass ihr eigentlicher Lebensmittelpunkt Familie Stark war.
„Ich will, solange es geht, ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben führen“, betonte sie immer wieder, und, ganz Lehrerin, bestimmte immer sie, wann sie mal wieder Zeit für ein Treffen mit uns hatte.
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